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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — 55.1932

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Fischer, Otto: Radierungen und Holzschnitte von Max Beckmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.6347#0048
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Max Beckmann, Straße II. 1916.

Radierung. Letzter Zustand.

erlebte, hat er sich dann jahrelang ausschließlich der Zeichnung und der Graphik hingegeben. Er
hat damals den Grund zu der späteren Neugestaltung seines Stils gelegt. Von 1914 bis 1917 ent-
standen einige seiner bedeutendsten und erstaunlichsten Radierungen: die weinende Frau, die Kriegs-
erklärung, die große Operation, das Totenhaus. Die impressionistische Anschauung ist hier noch
nicht ganz überwunden, aber sie befindet sich in voller Gärung, und aus ihr entsteht ein Neues, noch
Ungeformtes. Die heftige Zerrissenheit eines tragischen Mitgefühls mit einer in schweren Krämpfen
leidenden Menschheit sucht nach einem unmittelbarer wirkenden Ausdruck. Sie spricht aus dem
zuckenden Strich, sie konzentriert auf wenige scharfe Dunkelakzente das Wesentliche, sie verzichtet
auf den normalen Raumeindruck zugunsten stärkerer Wirkung, sie verzerrt die Gesichter, die Ge-
bärden zur Übertreibung des momentansten, besessensten Ausdrucks. Die Köpfe, die Gegenstände
werden in den kühnsten Überschneidungen zusammengedrängt, wie in einer Explosion gegen-
einander-und auseinandergerissen. Die dritte Phase, von 1918 bis 1922 etwa, ist die eines konse-
quenten, mit kalter Überlegung gestalteten Expressionismus. Jetzt entstehen die beiden großen
Lithographienzyklen, die »Hölle« und »Berlin«, jetzt auch viele Radierungen, darunter die Mappe
»Gesichter«, die das schamlose Treiben der Nachkriegsjahre mit unheimlicher Schärfe entblößen, aber
oft auch in einem erschütternden Beieinander in sich selber verbohrter Menschen eine große Ahnung
von Einsamkeit und tiefer Menschlichkeit aufwecken. Der Künstler mischt gerne sich selber zynisch
unter seine Larven, Barbetrieb, Jahrmarkt und Artistenwesen dienen ihm als sinnbildhafte Ver-
kleidung, unter der ihm das Leben nackt wie nirgends zutage tritt. Das Räumliche wird nun
negiert oder besser umgeformt zum Ausdruck unmittelbarer Spannungen, die Proportionen der
Figuren und Dinge nach dem Maßstab größter Ausdrücklichkeit verändert. Das Flackern der

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