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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — 55.1932

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Ankwicz-Kleehoven, Hans: Mariette Lydis
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https://doi.org/10.11588/diglit.6347#0076
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und Charakter«,1 »weisen stets zahlreiche
männliche Züge auf«, und es ist an ihnen
gewöhnlich auch ein männlicher Charakter,
ein dem Manne angenähertes Aussehen
erkennbar. Als Beispiele hiefür nennt er
George Sand und Annette von Droste-
Hülshoff, Helene Blavatsky und Rosa
Bonheur, die bekanntlich mit Vorliebe
Männerkleider trug. Man könnte diese Liste
noch sehr erweitern und auch aus der
Gegenwart so manche Künstlerin mit aus-
gesprochen männlichem Typus anführen,
wie die schon erwähnte Graphikerin Käthe
Kollwitz oder die Vorarlberger Malerin
Stephanie Hollenstein, die im Weltkrieg als
Tiroler Standschütze eingerückt war. Von
Natur aus ist die Frau zweifellos nicht im
selben Maße wie der Mann zu künstleri-
schem Schaffen veranlagt, weil ihr normaler-
weise jene formbildende Kraft mangelt, die
nach unsern bisherigen Erfahrungen aus-
schließlich der männlichen Phantasie und
dem männlichen, ordnenden Denken ent-
springt. Allein die Natur hat ja, wie eben
Weininger zeigte, in jedem Menschen männ-
liche und weibliche Eigenschaften in einem
Mariette Lydis, junge Mädchen. Zeichnung, nicht immer konstanten Verhältnis vereinigt,

und wenn bei einer Frau das maskuline
Element den regulären Perzentsatz übersteigt, so gewinnt sie mit diesem Plus an männlichem Wesen
zugleich auch Kräfte, die sonst nur dem Manne eigen sind, wie etwa die Fähigkeit zu selbständigem
künstlerischen Gestalten. Die Künstlerschaft einer Frau wächst also in dem Grade, als ihr spezifisch
weibliches Wesen ab- und die Annäherung an das Männliche zunimmt, wobei sich diese »Ver-
männlichung« nicht unbedingt auch äußerlich bemerkbar machen muß, sondern manchmal bloß
auf den Gefühlsinhalt beschränkt bleibt. Dies scheint mir bei der gegenwärtig in Paris lebenden
Malerin und Graphikerin Mariette Lydis, einer geborenen Österreicherin, der Fall zu sein, deren
feines, durchgeistigtes Frauenantlitz nichts von der ganz männlichen Einstellung verrät, mit der sie
den Dingen gegenübertritt. Die Pariser Presse, die ihren Schöpfungen begeistertes Lob zollt, hat
übrigens diesen charakteristischen Wesenszug ihrer Kunst nicht übersehen und ihn ausdrücklich
hervorgehoben. So bezeichnet Henry de Montherlant Mariette Lydis als eine große Künstlerin,
die »ä la fois homme et femme« sei. »Femme pour la sensibilite, homme pour la conception et
fexecution; femme pour recevoir, homme pour rendre.« 2 Und indem er diesen »dualisme de sa

1 Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. 13. Auflage, Wien, Wilhelm Braumüller, 1912, Seite 80f.

- Henry de Montherlant, Mariette Lydis, in: Arts et Metiers Graphiques. Paris 1030, Nr. 20, p. 81—87. Daselbst auch eine Bibliographie der
bis 1930 erschienenen Illustrationswerke der Künstlerin.

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