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MARIETTE LYDIS.

»Kunst bleibt immergleich dasselbe:Kunst«,
schrieb der zwanzigjährige Egon Schiele in eines
seiner Skizzenbücher und betonte seine Über-
zeugung von der Einheitlichkeit aller wahren
Kunst auch noch ein andermal durch das Be-
kenntnis: »Ich glaube, daß es keine ,moderne'
Kunst gibt; es gibt nur eine Kunst und die ist
immerwährend«.' Wie nun aber die Kunst trotz
alles Wandels der Form und immer erneuter
Problemstellung an sich durch Jahrtausende un-
verändert blieb, so spielt es bei ihrer imma-
nenten Wesensgleichheit auch keine Rolle, ob der
Schöpfer eines Kunstwerkes ein Mann oder eine
Frau gewesen ist. Denn die Maßstäbe für die
Beurteilung einer künstlerischen Leistung dürfen
immer nur im Werke selbst, nicht in der Person
des Schaffenden gesucht werden. Wenn beispiels-
weise Käthe Kollwitz ihre wundervollen Radie-
rungen und Lithographien nicht unter ihrem
eigenen Namen, sondern unter einem männlichen
Mariette Lydis, »Soieii de miit« aus Henry de Montheriant: »Le chant Pseudonym veröffentlicht hätte, und man erführe
des Amazones.. Lithographie. emes Tages den richtigen Sachverhalt, so könnte

dies selbstverständlich die kunstgeschichtliche Bedeutung dieser Graphiken nicht im geringsten
mindern. Es geht darum nicht an, von einer »Frauenkunst« zu sprechen, die andern Gesetzen
gehorchen sollte als die der Männer. Wie wirheute keine Rassenunterschiede in derKunst anerkennen
und einer Tang-Plastik oder einem Blatte Hokusais keinen schlechteren Platz in unsern Sammlungen
anweisen, als einem gleichrangigen europäischen Meisterwerke, so wäre in prinzipieller Hinsicht
auch die Frage nach dem Geschlecht aus allen ernsthaften Erörterungen über Kunst auszuschalten.
In der Praxis freilich steht der vielumstrittenen Ebenbürtigkeit weiblicher Kunstübung die nicht zu
bestreitende Tatsache gegenüber, daß die Fälle wirklichen Künstlertums bei Frauen relativ selten
und dann fast regelmäßig an bestimmte konstitutionelle Voraussetzungen gebunden sind, auf die
Otto Weininger wohl als Erster aufmerksam gemacht hat. »Alle mit einem gewissen Recht
berühmten und geistig irgendwie hervorragenden Frauen«, schreibt er in seinem Buche »Geschlecht

1 Briefe und Prosa von Egon Schiele. Herausgegeben von Arthur Roeüler. Wien, Richard Lanyi, 1921, Seite 17, 19.

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