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Glaser, Curt
Die Kunst Ostasiens: der Umkreis ihres Denkens und Gestaltens — Leipzig: Insel-Verl., 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.53086#0146
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Beschauer soll sich einer kühlen, durchsichtigen
Herbstnacht erinnern, in der die Scheibe des Voll-
mondes scharf geschnitten am silberschwarzen Him-
mel stand.
So allgemein nur wird die Situation genommen.
Jedes der großen Gemälde des Huang Ch’üan, deren
Name überliefert ist, heißt: Berge.1 Berge im Früh-
ling, Berge im Herbst, am Abend, am Morgen und
Berge im Regen. Die bleibenden Formen bestimmter
Natursituationen treten zurück gegenüber den vergäng-
lichen Stimmungen der Tages- und Jahreszeiten. In
ihnen wird das wahrhaft Dauernde offenbar, das
festeren Bestand hat als die scheinhaften Zufallsfor-
men der Dinge, die aller Natur gemeinsamen Grund-
gefühle des Aufblühens im Frühling, des Sterbens in
Winterstarre, der Frische des anbrechenden Morgens
und der düsteren Stimmung der sinkenden Nacht.
Dem Sinn dieser Kunst dient nicht breites Aus-
malen einer Situation, sondern Beschränkung auf das
allerwenigste, und — auch hierin gleicht sie der Ly-
rik —, dem Gefühl des Beschauers bleibt die mög-
lichste Breite des Spielraums. Nur ein paar Töne
weisen ihm den Weg. Dann ist er sich selbst über-
lassen. Aus dem Reichtum eigenen Empfindens mag
er dem Kunstwerk Lebensfülle leihen. Dieses reine
Stimmungsbild, das von allem Stofflichen befreit ist,
läßt sich schwer deuten, ohne Begriffe zu entleihen,
die dem Europäer nur in dem Bereiche anderer
Künste, der Lyrik und der Musik, geläufig sind.

1 Giles S. 80.
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