So mußte ihre Lehre geheim bleiben, aber Denker und Dichter
wußten sich daraus zu bereichern, jede höhere Sittenlehre, jede
Naturphilosophie, wie jede ästhetische Betrachtung mußte bis in die
neueste Zeit an ihre Rätsel und Rätsellösungen anknüpfen.
XV
Als besondere Erscheinung auf dem Gebiet ästhetischer Philosophie
sowohl in geistlichem Sinn als der Natur gegenüber ist Franciscus
von Assisi zu betrachten.
Seine Weltanschauung unterscheidet sich scharf von dem hieratisch
stolzen Gedankengang eines Augustin und dessen Nachfolgern, die
alle Häßlichkeiten des Daseins einem schwächlichen bösen Prinzip
aufhalsten und überließen, wendet sich aber auch von jenen Schön-
heitssuchern ab, die ihre Sehnsucht mit Allegorien verschleierten.
Franciscus umfaßt mit großer Liebe alle Häßlichkeit und alles Elend
der Erde. Er sucht daraus einen Tropfen herrlichster Schönheit
auszupressen, denn nichts scheint ihm wirklich fluchwürdig und ganz
von Gott verlassen zu sein.
Er feiert mit offenen Armen und mit unverhüllter Freude den
Glanz von Sonne, Mond und Sternen, aber auch was die Nacht
mit ihrem behutsamen Mantel deckt, wird ihm zur Quelle der Schön-
heit und er verachtet keinen Weggenossen auf der rätselvollen
menschlichen Pilgerfahrt.
Der Tod ist ihm kein strafender Dämon, kein scheußlich grinsendes
Gerippe mit der Sense, sondern er redet sanft von der lieblichen
Frau, die in der Erlösungsstunde naht und nennt sie eine schwester-
liche, friedenbringende Gewalt. Schön dünkt ihm nostra sorella
la morte.
Diese Auffassung sollte immer wieder erblühen in dichterisch ver-
wandten Seelen und noch in neuester Zeit Offenbarung finden.
So malte der Malerphilosoph Watts die friedenbringende Schwester
als hehre weibliche, in erhabenen Faltenwurf gehüllte Gestalt, die
mit sanftem Wink den Erkorenen bedeutet, daß es an der Zeit sei,
sich in ihrem weiten Gewand zu bergen, wie schläfrige Kinder am
Knie der freundlichen Wärterin. Und ein Dichter der neuen Welt,
Walt Whitman, ruft sie als weitherzige Erlöserin an:
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wußten sich daraus zu bereichern, jede höhere Sittenlehre, jede
Naturphilosophie, wie jede ästhetische Betrachtung mußte bis in die
neueste Zeit an ihre Rätsel und Rätsellösungen anknüpfen.
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Als besondere Erscheinung auf dem Gebiet ästhetischer Philosophie
sowohl in geistlichem Sinn als der Natur gegenüber ist Franciscus
von Assisi zu betrachten.
Seine Weltanschauung unterscheidet sich scharf von dem hieratisch
stolzen Gedankengang eines Augustin und dessen Nachfolgern, die
alle Häßlichkeiten des Daseins einem schwächlichen bösen Prinzip
aufhalsten und überließen, wendet sich aber auch von jenen Schön-
heitssuchern ab, die ihre Sehnsucht mit Allegorien verschleierten.
Franciscus umfaßt mit großer Liebe alle Häßlichkeit und alles Elend
der Erde. Er sucht daraus einen Tropfen herrlichster Schönheit
auszupressen, denn nichts scheint ihm wirklich fluchwürdig und ganz
von Gott verlassen zu sein.
Er feiert mit offenen Armen und mit unverhüllter Freude den
Glanz von Sonne, Mond und Sternen, aber auch was die Nacht
mit ihrem behutsamen Mantel deckt, wird ihm zur Quelle der Schön-
heit und er verachtet keinen Weggenossen auf der rätselvollen
menschlichen Pilgerfahrt.
Der Tod ist ihm kein strafender Dämon, kein scheußlich grinsendes
Gerippe mit der Sense, sondern er redet sanft von der lieblichen
Frau, die in der Erlösungsstunde naht und nennt sie eine schwester-
liche, friedenbringende Gewalt. Schön dünkt ihm nostra sorella
la morte.
Diese Auffassung sollte immer wieder erblühen in dichterisch ver-
wandten Seelen und noch in neuester Zeit Offenbarung finden.
So malte der Malerphilosoph Watts die friedenbringende Schwester
als hehre weibliche, in erhabenen Faltenwurf gehüllte Gestalt, die
mit sanftem Wink den Erkorenen bedeutet, daß es an der Zeit sei,
sich in ihrem weiten Gewand zu bergen, wie schläfrige Kinder am
Knie der freundlichen Wärterin. Und ein Dichter der neuen Welt,
Walt Whitman, ruft sie als weitherzige Erlöserin an:
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