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Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0190
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Bibliothek, denn er hielt jeden geistigen Genuß für Sünde. Fra
Bartolomeo entsagte der Malerei nach den Predigten Savonarolas
und vernichtete einige seiner Bilder. Boccaccio bereute im Alter,
seine zierlichen Erzählungen geschrieben zu haben, und Petrarca
war nahe daran, seine Sonette abzuschwören; Ruskin, der doch die
Schönheit mehr als je ein Gelehrter liebte, schlug sich auf die
Brust und sprach als Greis in schmerzlicher Anwandlung den
Zweifel aus: Es ist Sünde, vor gemalter Leinwand und behauenen
Steinen oder beim Lesen schöner Verse etwas von unseren karg
bemessenen Empfindungen auszugeben und es den Lebendigen zu
rauben. Wir stehlen ihnen diese Gefühle und, statt sie in gute
Werke zu verwandeln, verpuffen wir sie in unfruchtbaren Stimmungen,
Kunstwerken und toten Dingen zuliebe, die unser Gefühl entbehren
können.
Mit Unrecht hat man das Christentum angeklagt, allein und von
Anfang an ein Feind der Schönheit gewesen zu sein. Die Stoiker
verfuhren genau wie christliche Asketen und Sallust wagte, das Ver-
gnügen an Gemälden zu verurteilen, er nannte es Verweichlichung
und stellte es mit Trunkenheit auf eine Stufe.
Zwei uralte, immer lebendige Strömungen, ewige Zweifel, die von
jeher die Seelen zerrissen, trennen Schönheitsfreude und Pflicht-
gefühl. Je künstlerischer ein Mensch empfindet, desto schwerer
lastet der Zwiespalt, den seit jeher irrtümliche Meinungen aufrissen.
Doch Schiller behauptete, jeder Mensch ist zum Schöpfer von Schön-
heitswerten bestimmt. Schönheit hervorzurufen ist seine natürliche
Aufgabe, ein unausrottbarer Drang, wie es der innere Drang eines
Malers ist, zu malen.
Der Mensch ist im innersten Wesen getroffen und muß grausam
verschmachten, wenn er sich nicht entwickeln kann, in Freiheit
Schönes zu schaffen, unaufhörlich Schönes hervorzurufen und es in
seiner Umgebung auszustrahlen.
Die Tragödie der Menschheit liegt darin, daß ihr eigentlicher Beruf
verkannt wird, daß tausend Feindseligkeiten sich gegen die mäch-
tige Sehnsucht des Schöpfertums verschwören, die allgemein mensch-
liche Künstlerschaft an der Entfaltung hindern. Ohne Schönheit
verkümmern wir oder werden zu geschickten Teufeln.
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