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heit, die weder der sinnliche noch der moralische Trieb auslösen
kann. Durch eine freie Vorstellung müssen die Zwangsvorstellungen
dieser beiden Triebe aufgehoben werden, damit sich der Mensch im
Zustand der Selbstbestimmung befinde. Jene Unterjochung des In-
stinkts durch die Vernunft, die von den Glückseligkeitssystemen
gepredigt wird, erzeugt nur einen Zustand von innerem Kampf und
Streit, von Heuchelei des Instinkts oder Heuchelei der Vernunft.
Was Schiller verlangt, ist vor allem innere Aufrichtigkeit.
Der Instinkt wird aufgehoben, indem er sich vollendet; der mora-
lische Trieb wird aufgehoben, indem er sich vollendet. Beide Triebe
können sich aber nur vollenden, indem sie vor ein höheres Kriterium
treten, veredelt durch eine besondere, einzige Stimmung, die allein
die höhere Menschwerdung kennzeichnet. Diese Stimmung macht
frei und gibt die Wahl, denn sie ist zugleich Urteil und Gefühl.
Es ist die ästhetische Stimmung, die zwischen Urteil und Gefühl versöhnt,
das eine durch das andere bestätigt und daher ein Schöpfertum im Be-
wußtsein edeln Maßes ermöglicht. Die Schöpfung eines also schaffen-
den Menschen wird ihm ähnlich sehen, das heißt schön sein.
Geht diese einfache und doch so vollständige Lehre nicht ein in
Herz und Verstand, so wird in Abwesenheit der vertriebenen Schön-
heit die Langeweile und Bangigkeit grenzenloser Öde empfunden
und der Mensch sucht Sensation, sucht die verschiedensten Be-
täubungsmittel, um die Leere zu füllen und sich selbst zu täuschen.
Schillers Wesen ist Erläuterung seiner Lehre. Ihm gehörte das Recht,
auf die Majestät des Menschentums begeistert hinzuweisen, denn er
hatte sich zu jener vollkommenen Vornehmheit durchgerungen, die
Selbstverständlichkeit des Schönen ist, so daß Goethe dem Leben
des Freundes ein Schlußwort zufügen durfte, das stolzer und zarter
klingt als je ein Nachruf:
Denn hinter ihm in wesenlosem Scheine
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.
XLI
Wie sich ein wunderbarer Ton zum anderen fügt im rauschenden
Akkord, klingt Goethes Wesen zu Schillers Wesen, Goethes Schön-
heitsglauben zu Schillers Schönheitsglauben und die gemeinsame
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