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Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0244
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Künstler zu sein. Sie liebten die Einfachheit und Natürlichkeit jener
Zeit, die weder Kunstschwindel noch Börsenmanöver kannte, sondern
die Aufgabe der Kunst darin sah, das Leben mit reiner Freude zu
verklären.
Feierlich verkündeten sie den Naturalismus im Sinn einer liebe-
vollen Hingabe an die Natur, unbekümmert um irgendwelche Vor-
schriften. Ferner erklärten sie, der Zweck der Künste sei, jedes
Heim und jedes Herz zu schmücken, jeden, auch den Ärmsten, mit
seligem Lächeln in ein Reich sanfter Schönheit zu führen. Diesem
Ideal wollten sie ihr Leben weihen, und sie taten es unbeirrt, treu,
stolz und gut.
Spätromantiker wie Wagner und die Praeraffaeliten sind von der
sinnlichen Schönheit ausgehend zu der idealen gelangt. Der Weg,
den sie nahmen, ist bezeichnend für die wahre philosophische Auf-
gabe der Kunst, und der Anschauungsunterricht, der ihn recht be-
trachtet, gewährt Wertvolleres als das labyrinthische Studium von
stets wieder durcheinander geworfenen begrifflichen Definitionen.
Die Praeraffaeliten fühlten sich angeekelt von dem stumpfen Grau
der lieblosen Konvention, die mittelalterliche Romanze erschließt
eine Welt lebenskräftiger Farbe. Die Freude an diesem sinnlich, doch
edelsinnlich Angenehmen führt zu neuer, immer höherer Schönheits-
sehnsucht·
Welche Kraft hat einst die Welt bunt, schön, erlebenswert gemacht?
Wodurch waren die Frauen hehr und lieblich, die Ritter andächtig?
Es lebte Unschuld, Aufrichtigkeit, Mut in ihnen. Die Praeraffaeliten
sannen: Jene, die so schöne Rüstungen trugen, deren Frauen so
herrliche Gewebe schufen, deren Sänger so herzerquickend sangen,
hatten den Mut, Englands großen Freiheitsbrief zu verlangen, zu
erringen, zu behaupten. Die Freiheit, die nun allmählich im Philister-
tum versandete und reif wurde zu sterben, war von jenen Schön-
heitsfreudigen erkämpft. Von innen heraus war daher ihre Kunst,
die gotische Kunst, schön, nicht nach irgendwelchen äußeren Vor-
schriften. Gegen die langsam tötende Tyrannei des Philistertums
rief die kleine Schar der Praeraffaeliten beherzt jenes bunte, lebens-
mutige Mittelalter auf, so wie das jedem Schönheitssucher heilige
Hellas. Ihre Liebe vermählte kraft der Sehnsucht ein Ideal mit dem
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