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Gockel, Bettina; Gainsborough, Thomas [Hrsg.]
Kunst und Politik der Farbe: Gainsboroughs Portraitmalerei — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.37701#0135
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III. DAS>NATÜRLICHE<ALS
NEUE REPRÄSENTATIONSFORM.
ZUM VERHÄLTNIS VON
KUNST UND NATURWISSENSCHAFT

Das vorhergehende Kapitel stellte Debatten und Ent-
wicklungen in der Kunst, der Ästhetik und der Wissen-
schaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in
England vor, in denen die subjektive, sinnliche Be-
trachtung, nicht die Eigenschaft der Dinge zum Para-
meter eines radikalen Empirismus wurde. Naturbeob-
achtung und Experiment sollten m der Kunst und in
der Naturwissenschaft die Einsicht in die Natur der
Dinge immer wieder auf den Prüfstein stellen. In Eng-
land opponierte dabei nicht ein aufklärerischer Ratio-
nalismus gegen eine neue Empfindsamkeit und Subjek-
tivität. Vielmehr ging es um das Maß und Ziel einer em-
pirischen Sicht auf die Natur, den Menschen und seine
Empfindungen. Mit der Herauslösung der Empfin-
dungen aus dem Korsett der Affektenlehre und dem
ästhetischen System des Schönen und Erhabenen geriet
gleichwohl ein Bedeutungsgefüge ins Schwanken, das
man an einer moralisch guten, vorgewußten Ordnung
in der Natur festgemacht hatte. War die Erkenntnis
nun Sache subjektiver Betrachtung und Schlußfolge-
rung, so erlaubte dies eine Vielfalt an Theorie- und Me-
thodenbildung, die zur Grundlage moderner Natur-
wissenschaften werden sollted
David Hume war der führende Kopf dieses Angriffs
auf eine feststehende Wertordnung, die in die Anlagen
und Erfahrungen des -natürlichem Menschen verlagert
wurde. Die profanisierte Sicht auf die Natur und den
Menschen setzte Überlegungen zur Neuordnung und
Relativierung etablierter Systeme frei, die sich als eine
erweisen sollten: Die Gesellschafts-
ordnung, die Wirtschaft, der Handel und das mensch-
liche Miteinander wurden unter den Vorzeichen von
>Natur< und >Natürlichkeit< und aufgrund der daran
geknüpften Vorstellungen von Freiheit und Verände-
rung diskutiert." Auch der schon erwähnte Theologe,
Naturwissenschaftler und Politikphilosoph Joseph

* Vgl. zur Kontroverse um induktive Methodik und Hypothe-
senbildung zwischen 1745 und 1850 LAUDON 1981.
' Vgl. zum Begriff des -Natürlichem bei David Hume und
Adam Smith die differenzierten Analysen von STREMIN-
GER 1995.
^ Vgl. Kapitel II., l.,S.82ff.
^ Ähnliche Zusammenhänge einer materialistischen Naturauf-
fassung mit aufklärerisch politischen Ideen sind gleichzeitig
m Frankreich im Umkreis der Enzyklopädisten zu verzeich-
nen, wobei im Laufe des Kapitels auf Differenzen hmgewie-

Priestely malte an diesem komplexen Bild des Natür-
lichem mit. Sein Werk ist hier von besonderem Interes-
se, weil es wissenschaftliche und politische Überlegun-
gen zusammenführt und zugleich eine große Resonanz
in der englischen Oberschicht fand.
Mehr noch als seine Auslegung der Assoziations-
theorie David Hartleys, in der er sinnliche Wahrneh-
mung und intellektuelle Leistung, Gefühl und Ver-
nunft qualitativ gleichgesetzt hattet sollte seine Auf-
fassung einer dynamischen, von Kräften durchdrunge-
nen Natur die politischen Visionen reformerisch ge-
stimmter Zeitgenossen transportierend Mit der
Vorstellung einer materialistisch-dynamischen Natur
wurde die Hierarchie zwischen materiellen und imma-
teriellen Naturphänomenen aufgehoben. In diesem ho-
rizontal strukturierten Modell ließ sich eine stoffliche
Ganzheit von Mensch und Natur denken. Das Auf-
sprengen der Hierarchie zwischen Mensch und Natur
ließ sich relativ einfach auf eine sozialgesellschaftliche
Situation übertragen. So wurde aus dem naturwissen-
schaftlichen Ganzheitsentwurf explizit die Idee einer
grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen abgeleitet.
Zugleich wuchs dem Menschen gerade durch die Ein-
sicht in die Vorgänge der Natur eine besondere Macht
über diese zu. Ein höchst optimistisches Menschenbild
konnte sich in diesem Naturbegriff mit einem geradezu
euphorischen Fortschrittsglauben vereinen.
In dem folgenden Kapitel wird die These vertreten,
daß Gainsborough dieses aufklärerische Menschen-
und Naturbild in seinen Porträts darstellte. Er entwarf
m seinen Gemälden eine Einheit von Mensch und Na-
tur, die seinen Auftraggebern als ethisch und politisch
aufgeladene Repräsentationsform diente, mit der sie ih-
rem Selbstbild als -moderne- und -natürliche- Men-
schen Ausdruck verleihen konnten. In Kunst und Na-
turwissenschaft wurden dabei die gleichen Phänomene

sen wird; vgl. zu einer Gegenüberstellung von Neoplatonis-
mus und französischem Materialismus sowie zu einer Zu-
sammenfassung des englischen Materialismus STAFFORD
1991, $.233-254, bes. S.253f. und S.420-463. Die naturwis-
senschaftliche Unterfütterung dessen, was man mit -Natür-
lichkeit meinte, das heißt, das wissenschaftliche Modell einer
profanen, veränderlich gedachten Natur, wird auch m Frank-
reich zum Erfolg des Natürhchkeitskonzepts beigetragen ha-
ben; vgl. zum -Natürlichen- als künstlerische und politische
Formel m Frankreich HELD 1990.

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