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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0127
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Deutung

Vespasien und Titus ziehen mit einer riesigen Flotte nach Palästina, sie erobern Jota-
pata und belagern Jerusalem. Es folgen grauenhafte Szenen, die sich ziemlich getreu
an die Coquillartsche Übertragung (zwischen 1460 und 1463) der „De bello iudaico
libri VIP von Flavius Josephus halten.

Der Hunger treibt die Belagerten zur Verzweiflung; eine Frau verzehrt ihr eigenes
Kind (Abb. 214). Die Stadt fällt, Plünderung und Mord beginnen ihr entsetzliches
Werk.

Die Führer der Juden verschlucken, um ihre Schätze zu retten, Gold und Juwelen.
Die Römer schneiden den Gefangenen den Leib auf und entnehmen die kostbare Beute
den Eingeweiden (Abb. 212).

Ob die sonstigen Greuel der „Vengeance" in der Teppichfolge wiedergegeben sind,
wie die scheußliche Operation, die Nero an seiner eigenen Mutter vornehmen läßt,
dürfte erst durch das Auftauchen weiterer zugehöriger Bildteppiche festzustellen sein.
Die Wahrscheinlichkeit ist nach den vorliegenden Proben nicht ausgeschlossen. Wir
müssen uns zudem vergegenwärtigen, daß die Epoche der beiden letzten burgun-
dischen Herzöge reich an wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen einschneidender
Art ist. Ausschweifungen und Verbrechen sind nicht selten; der politische Meuchel-
mord findet beredte Verteidiger; die Freude am Blutvergießen, an Folterqualen und
Hinrichtungen ist allgemein. Die Greuel in den Lütticher und Genter Kämpfen, der
Untergang der Stadt Dinant mit seinen entsetzlichen Einzelheiten, sind genügend be-
kannt. Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ist sowohl die Zeit des höfischen
Prunkes, der rauschenden Festesfreude, der Sinnenlust — Philipp der Gute zeugte
nicht weniger als 18 Bastarde —, als auch des Mystizismus und des Selbstmordes (62).

Die heitere Seite des ritterlichen Lebens verkörpern die zahlreichen Folgen mit den
Darstellungen der Liebesspiele, der höfisch preziösen „Plaid oyerie d'amour". Zum
Verständnis dieser den Laien zunächst seltsam anmutenden Bildteppiche erscheint ein
kurzer Abriß der einschlägigen Literatur, der sozialen und wirtschaftlichen Schichtung
Grundbedingung.

Der neue kapitalistische Zug der Zeit, der das gute Verhältnis zwischen Arbeit-
geber und Arbeitnehmer schwinden läßt, der der Kirche bindendes Band zerschneidet,
bleibt nicht ohne merklichen Einfluß auf den zweiten Stand, den Adel. Die Neu-
reichen drängen sich, hochtönende Titel und Herrschaften zu erlangen, sie suchen
Verbindung mit den alteingesessenen Geschlechtern. Langsam, aber sicher verwischen
sich die bisher scharf betonten Grenzen; die Gleichmacherei beginnt; die alten Ideale
werden angezweifelt und von der Mehrzahl der Emporkömmlinge, denen keine Er-
ziehung, keine Tradition das Verständnis erschließt, verspöttelt.

Der Teppich der „thronenden Minne" im Rathause zu Regensburg illustriert den
Zwiespalt, in den der ritterbürtige, edle Mann durch das plumpe, rücksichtslose Ein-
dringen des Neulings, der sich lediglich auf den wohlgefüllten Beutel beruft, geraten
muß, in vorbildlicher Weise.

Der Ritter, der sich dem Throne der Herrin naht, spricht: „fraw so ich pin ein
helt und pin dein und volt mit euch steter minn pflegen." Das schnöde Geld reprä-
sentiert ein Zwerg, der seine Lebensanschauung mit dürren Worten zum Ausdrucke
bringt: „fraw ich pin nit ein Edelmann sehet mein pfennig an." Ein schwerer Geld-
sack, den er auf der Schulter schleppt, unterstreicht die Worte.

Dem Zuge der Zeit entsprechend, dreht sich in erster Linie der Streit der Meinungen
um das vornehmste Kampfobjekt, die Frau. Der Minnedienst wird im Gegensatze zu
den Nachbarländern in den Staaten Philipps des Kühnen und seines Nachfolgers mit
tiefem Ernst und Hingebung gepflegt. Der Rosenroman des Guillaume de Lorris ist
noch immer das Vorbild der vornehmen Liebenden. Gern denkt sich der minnende
Edle in die Rolle des jugendlichen Dichters, der träumend im Liebesgarten seltsame
Dinge erschaut. Mit Widerwillen weist er alle unritterlichen Gestalten, die sich ihm
zu nahen wagen, Haß, Geiz, Neid, Traurigkeit, Alter, Armut, Untreue und Heuchelei
von sich. Er folgt der lieblichen Oyeuse, die ihm den Kreis des Liebesgottes mitsamt

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