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Deutung

den holden Gespielinnen, Jugend, Freigiebigkeit, Höflichkeit, Reichtum, Kurzweil
und Freude, erschließt. In Verzückung erblickt der Jüngling in der hellen Quelle
des Narcissus das lockende Bild der Rose, das all seine Gedanken gefangen nimmt.
Dieu d'Amour erkennt den edlen Sinn des Liebenden, er trifft ihn mit seinem nie
fehlenden Pfeile und verschließt sein Herz mit goldenem Schlüssel. Die Wanderfahrt
nach der Rose beginnt; der Liebesgott erwählt Bel-Accueil zu seinem Begleiter. Schwer
und endlos scheint der Pfad. Die allegorischen Gestalten der Gefahr, Verleumdung,
Schmach und Furcht stellen sich den beiden entgegen. Die prächtig gekleidete Raison
versucht den jungen Ritter zu trösten, sie malt zugleich die Schwierigkeit seines Vorhabens
in bewegten Worten. Die reizvolle Episode schildert ein Teppich der Sammlung Bardac
im Pariser Louvre; Raison trägt eine üppig ausgestattete, mit edlen Steinen besetzte
Hörnerhaube (63). Bel-Accueil schaut dem Bemühen Raisons gelassen zu, die Linke
nachlässig im Gürtel. Der Liebende scheint den Ausführungen der Dame aufmerksam
zu lauschen, als Schutz und Schirm hält er im schweren Tuchhut den blühenden
Rosenzweig. Der Hintergrund ist «limoge"; auf den verschiedenfarbigen Streifen ranken
sich prächtige Rosenstämme.

Weiter geht die Wanderschaft; Freimut und Mitleid eilen dem Liebenden zur Hilfe;
Neid, Schande und Furcht ziehen um die Rose und Bel-Accueil eine trennende Burg.
Der Liebende verzweifelt; Raison erscheint als Beraterin. Der erste und schönste Teil
des Rosenromans schließt.

Ein glücklicher Zufall hat im New-Yorker Metropolitanmuseum zwei weitere Frag-
mente der Rosenfolge erhalten. Auch hier erscheint der Liebende im Gespräch mit
den verschiedenen, durch Frauen- und Männergestalten personifizierten Tugenden und
Lastern (Abb. 191).

Der Rosenroman wird etwa 40 Jahre später (um 1270) durch den ebenso gelehrten,
wie trockenen Jehan de Meung vollendet. Der zweite Teil beginnt mit endlosen Ge-
sprächen, reichlich langweiligen Ausführungen aus dem Alten und Neuen Testamente,
den griechischen und römischen Klassikern und Episoden aus der antiken und mittel-
alterlichen Geschichte. Der Liebende schlägt alle Gründe Raisons in den Wind; nach
langatmiger Diskussion mit Ami erklärt der Liebesgott die Prüfungen für beendet; der
Sturm auf die Rosenburg beginnt. Faux-Semblant und Contrainte-Abstinence über-
rumpeln durch List Male-Bouche. Ein gewaltiger Kampf setzt ein. Die Laster werden
überwältigt; der Liebende pflückt die Rose.

Toutes femmes sers et honore

D'elles servir peine et labore

Et se tu os nue medisant

Qui aille fames desprisant

Blasme-le et dis qu'il se taise"
singt der ritterliche Guillaume de Lorris. Der mit körperlichen Gebrechen behaftete
de Meung liebäugelt schon stark mit der Richtung, die in der Frau nicht mehr die
beherrschende Domina sehen will, sondern mehr das Weibchen, dem einige pikante
Züge nichts schaden können. «Chastoiement des dames" von Robert de Blois, ent-
standen im zweiten Drittel des 13. Säkulums, und verschiedene andere Dichtungen
bewegen sich in ähnlichen Gedankengängen (64); sie bringen scharfe Angriffe und
geben zugleich Verhaltungsmaßregeln, ohne aus den durch Sitte und Anstand ge-
zogenen Grenzen herauszutreten. Erst ein grauenhaftes Naturereignis, der schwarze
Tod, der zu Ende des 14. Jahrhunderts mit dürren Knöcheln alle Bande der Familie,
Zucht und Ordnung löst, schafft den Boden für eine lediglich auf Sinnengenuß und
Geldgewinn eingestellte Lebensanschauung. Reich wie Arm, Hoch und Niedrig sind
dem gleichen Verderben erbarmungslos preisgegeben, die Standesunterschiede ver-
wischen sich, alte Geschlechter sterben oft bis auf den letzten Sprößling aus; der
reiche Emporkömmling tritt an ihre Stelle. Der Sinnentaumel wird Alleinherrscher;
Frechheit, Gemeinheit, die Lust an obszönen Dingen ersetzt die wertlos gewordene
vertiefte und verfeinerte Lebensart. Boccaccio erfaßt die Lage in klarer Schärfe mit

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