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Grafschaft Flandern.

Oudenaarde.

Mit der Entwicklung des Freihandels, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts seinen
sieghaften Einzug in Flandern hält, beginnen die alten morsch gewordenen Zunft- und
Gemeindeverfassungen endgültig ins Wanken zu geraten. Die Spannung zwischen
den Vertretern des sich ängstlich abschließenden Kleinbürgertums, das die neuen
Symptome mit dem denkbar größten Mißtrauen beobachtet, und den machtvoll em-
porstrebenden kapitalistischen Emporkömmlingen, die nach und nach Handel und
Wandel völlig an sich reißen, gestaltet sich immer schärfer. Die Kleinindustrie der
Zünfte wird durch die Großunternehmungen zurückgedrängt; das enge Verhältnis
zwischen Meister und Gesellen geht verloren. Der „Knecht" sinkt zum mittellosen
Handarbeiter herab, dem jede Aufstiegmöglichkeit fehlt; er wird zum Ahn des groß-
städtischen Proletariers. Während Antwerpen sich in den Geist der neuerwachten
sozialen und wirtschaftlichen Ideen zu finden weiß und zur größten Handelsmetro-
pole des Nordens auswächst, repräsentiert Oudenaarde das typische Fabrikzentrum
der Bildteppichindustrie mit allen Licht- und Schattenseiten. Die Arbeitermasse ent-
behrt zunächst noch jeder Organisation; die auf dem alten Zunftgedanken aufgebauten
Gesellenverbände sind praktisch bedeutungslos.

Die Anfänge der Oudenaarder Teppichwirkerei, die um 1550 einen Höhepunkt er-
reicht, geht bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts zurück. Ursprünglich gehören
die W;irker, wie in den meisten flämischen Städten, der Zunft der „wolle wevers"
an; 1441 erfolgt die Trennung. Der Erlaß vom 14. Juni 1441 regelt die Rechte und
Pflichten der neuen Körperschaft, der „legheweerckers ende tapitsiers in de ghulde
van Ste Baerblen". Die dreijährige Lehrzeit wird vorgeschrieben, das Verbot der
Sonntagsarbeit ausgesprochen, kurz wir finden die sattsam bekannten Leitsätze mit
kleinen Variationen (1). Der Erlaß erstreckt sich auf Oudenaarde und die umliegenden
Ortschaften: Pamele, Bevere und andere. Die Durchführung wird dem Doyen und
den drei Geschworenen der neuen Bruderschaft anvertraut; die feierliche Veröffent-
lichung findet am 16. März 1443 statt. Wie in Brüssel, so ist auch hier die «Am-
bacht ende neeringhe" der Wirker zugleich eine militärische Organisation. Sie ge-
hören einem bestimmten städtischen Banner an und haben sich bei gewissen Glocken-
zeichen zum Schutze der Kommune zur Verfügung zu stellen; eine Pflicht, die gerade
in Oudenaarde oft drückend empfunden wird. Der St. Barbaratag ist der Festtag
der Bruderschaft; ein gemeinsames Mahl, das sich allzuoft zur Völlerei auswächst, ver-
eint die Mitglieder. Schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigt die Art
der Entwicklung der Oudenaarder Zunft einen stark kommerziellen Einschlag. Tep-
piche von künstlerischem und qualitativem Werte gehören zu den Seltenheiten, der
Hauptsache nach wird billige Massenware erzeugt. Wenn Biavoinne (2) erzählt, die
Paläste der Sultane schmückten Oudenaarder Teppiche, so läßt sich die Möglichkeit
nicht ohne weiteres abstreiten, sie findet ihre Erklärung in den lebhaften Handels-
beziehungen Flanderns zur Levante. 1456 schließt sich die große Masse der Gesellen
zu der Sankt Genovevabruderschaft zusammen. Meister und Gesellen suchen sich an
ihren Schutzheiligentagen durch fleißiges Trinken zu überbieten, ungeachtet des

30 Göbel, Wandteppiche.

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