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Die Deutung des Wandteppichs

Die Frühzeit bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts.

Die Bildwirkereien aus der Zeit der Burgunderherzöge aus dem Hause Yalois lassen
sich zweckmäßig in sieben große Unterabteilungen gliedern; in:
Wandteppiche, die
Ia. frühe Heldengesänge wiedergeben;
Ib. nach zeitgenössischen, zumeist Prosaromanen arbeiten;
II. Geschehnisse aus der Antike veranschaulichen;
IU. zeitgenössische Ereignisse darstellen;
IV. Bilder und Szenen aus der religiösen Literatur bringen;
V. das damalige Leben und die höfischen Sitten widerspiegeln;
VI. Fabeln und Satiren in die Wirkereikunst übersetzen;
VII. Wappen und sonstige Hoheitszeichen wiedergeben.

Die Kunst der hoch- und tieflitzigen Wirkerei ist in Frankreich, Deutschland, Skan-
dinavien und verschiedenen anderen Teilen Europas uralt. Es ist unwahrscheinlich,
daß erst fremdländische Kultur Germanien und Gallien Befruchtung brachte. Wir
finden zudem die gleichen ursprünglichen Geräte, den gleichen Arbeitsvorgang im
Abend- wie im Morgenlande, bei den Ägyptern der Frühzeit, den Völkern Ostasiens
und den Küstenstämmen des peruanischen Inkareiches.

Eine einwandfreie Klärung der frühesten europäischen Wirkerei stößt aus verschie-
denen Gründen auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Abgesehen davon, daß die Art
des verwandten Materials (Wolle) den gewirkten Gebrauchsgegenstand — um Kunst-
werke im höheren Sinne dürfte es sich kaum gehandelt haben — allzu rascher Ver-
nichtung anheimfallen ließ, versagen die literarischen Quellen durch die Unklarheit des
technischen Ausdruckes. Der vorliegende Abschnitt befaßt sich lediglich mit den
Wirkereien des 14 und 15. Jahrhunderts; er versucht eine vorbereitende Grundlage
in den Heldengesängen der voraufgegangenen Epoche zu gewinnen.

Publikationen, die in unser Gebiet fallen, sind verhältnismäßig selten. Bedeutungsvoll ist in
erster Linie ein Aufsatz Otto Söhrings (1), der verschiedene „chansons de geste^, das Alex-
anderlied Lamberts Ii Tors und Alexanders de Bernay, den Auberyroman, den t<Chanson
du Chevalier au cygne", wLe Roman de Thebes" und verschiedene andere Dichtungen
einer kunstgeschichtlichen Durchsicht unterzieht. Die früheste und ausführlichste
Schilderung einer reichen Textilienausstattung bringt Söhring, seinem Programme ent-
sprechend, dagegen nicht. Es handelt sich um das um 1100 entstandene Gedicht des
Abtes Baudri de Bourgueil, in dem die prunkvolle Kemenate einer Prinzessin von
Geblüt — wahrscheinlich denkt der Autor an Adele von Blois, die Tochter Wilhelms
des Eroberers — des näheren geschildert wird. Wie bei den meisten frühen litera-
rischen Angaben ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob Wirkteppiche oder Stickereien
in Frage kommen. Baudri erwähnt ausdrücklich, daß die Herrin die Arbeit durch ihre
Mägde ausführen ließ und selbst überwachte. Falls es sich nicht nur um eine höfische
Schmeichelei handelt, liegt der Gedanke nahe, an Stickereien in der Art des bekannten
Bayeuxteppichs zu denken. Darstellungen aus dem alten Testamente — Geschehnisse
aus der Genesis, den Büchern Mosis und der Könige — mythologische Szenen aus der
Geschichte Trojas, Schilderungen aus Ovids Metamorphosen, Episoden aus der Wan-

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