Deutung
Literatur der voraufgegangenen Epoche auf — macht es außerordentlich schwer, einiger-
maßen klare Grundzüge für die in dieses Gebiet fallenden Bildteppichfolgen fest-
zulegen. D. T. B. Wood gibt in seinem Aufsatze (126) eine ebenso interessante wie
geistvolle Zusammenfassung der verschiedenen Strömungen, die er zu einem großen
Zyklus zusammen zu schließen sucht. Mehrere Grundideen, die sich vielfach berühren,
laufen nebeneinander her.
Um das ohnehin verwickelte Thema nicht noch mehr zu erschweren, werden Vor-
läufer der Moralitäten des 16. Jahrhunderts nur insoweit erwähnt, als sie von unmittel-
barem Einflüsse auf Teppichfolgen gewesen zu sein scheinen. 1396 geht zum ersten Male
KLe Mystere de Bien-Avis6 et Mal-Avise^, eine Moralität von beträchtlichem Umfange, in
Szene; 1439 folgt eine Wiederholung in Rennes. Der Gedankengang des Stückes ist
nicht originell; er knüpft an verschiedene frühere und gleichzeitige Quellen an. Der
Inhalt ist kurz folgender: Bien-Avisö, der Mensch, der den schmalen Weg der Tugend
wählt und sich lediglich auf seine guten Seelenkräfte verläßt, und Mal-Avise, das Welt-
kind, beginnen ihren Lebenslauf. Bien-Avise schließt sich der Raison an, die ihn nach
mancherlei Belehrungen zur Herrin Foi, dem Glauben, geleitet. Es folgen endlose Er-
mahnungen und Erläuterungen; nach innerer Einkehr — durch Frau Contrition sym-
bolisiert — landet der gut beratene Erdenpilger bei Dame Confession. Die Läuterung,
die in dem Bekenntnisse zum wahren Glauben gipfelt, sichert Bon Avise eine zahlreiche
Begleitschaft in Gestalt verschiedener Tugenden, die ihn schützen und vor allen An-
fechtungen der Welt bewahren. Es erscheinen Demut, Buße, aufrichtige Reue, Keusch-
heit, Fasten, Gebet, Enthaltsamkeit, Gehorsam, Geduld, Klugheit, Ehre und die Ver-
körperung des Fleißes. Der Lebenslauf des frommen Pilgers endet in den Armen von
Bonne Fin; Engel tragen die Seele des Verklärten gen Himmel.
Entgegengesetzt verläuft die Bahn Mal-Avis6's. Er knüpft zunächst eifrige Freundschaft
mit Faulheit und Aufruhr an. Torheit, Ausschweifung, Verzweiflung, Armut, Mißgeschick
und Dieberei schließen den Reigen, der in tollem Wirbel bei Malefin endet, die den
Sünder erwürgt. Die Seele verfällt den Teufeln. Der Vorgang ist durch allegorische
Bilder reich belebt, auch die Gestalt des doppelsichtigen wandelbaren Glückes — das
eine Antlitz lacht, das andere ist zur Fratze verzerrt — fehlt nicht. Die Namen der
in der Moralität erscheinenden allegorischen Figuren finden sich in späteren Versionen
und dementsprechend in den von ihnen beeinflußten Teppichen fast unverändert
wieder. Die meisten sind leicht erkennbar: Franche Voulente, Raison, Foy, Contricion,
Enfermetö, Humilite, Tendresse, Oysance, Rebellion, Folie, Hoquellerie (Ausschweifung),
Confession, Occupation, Penitence, Satisfaction, Aumosne, Vaine gloire, Jeusne, Oraison,
Desesperance, Povrete, Mallemeschance, Larrecin (Raub), Honte, Chastete, Abstinence
Obedience, Diligence, Pacience, Prudence, Fortune und Honneur.
Bien-Avise, Mal-Avise genießt eine außerordentliche Beliebtheit; das Stück erscheint
noch im 16. Jahrhundert im Drucke (127).
Auf dem gleichen Gedankengange baut sich „L'Homme juste et l'Homme mondain"
auf; er entstammt der Feder des Simon Bougoin und wurde 1508 bei dem bekannten
Pariser Buchhändler Anthoine Verard verlegt. Meister Simon vergrößert das Heer
der Tugenden und Laster noch um einige Gestalten; es erscheinen u. a. La Royne de
Salvation, Charite, Largesse (Freigebigkeit), la Royne de Perdition mit den sieben
Lastern, la Chair, l'Honneur mondain, Folie plaisance, Mauvaise voulente, Obstination,
Prodigalite, Tromperie, Usure, Symonie, Infamete und Desconfort. Die Aufzählung
der Benennungen ist nicht ohne Bedeutung; die den allegorischen Frauengestalten in
der Regel beigefügten Namen ermöglichen eine leichtere Erklärung der verschiedenen
Wandteppiche und Fragmente dieser Gattung, die teilweise unter phantastischen Be-
zeichnungen kursieren.
Die Moralität Bougoin's, der den Titel eines «valet de chambre" König Ludwigs XII.
führt, spinnt die altbekannte Idee, namentlich in dem ersten Teile, etwas langatmig
aus; Paradies und Hölle mit allem Zubehör treten in Erscheinung. Verschiedene Epi-
123
Literatur der voraufgegangenen Epoche auf — macht es außerordentlich schwer, einiger-
maßen klare Grundzüge für die in dieses Gebiet fallenden Bildteppichfolgen fest-
zulegen. D. T. B. Wood gibt in seinem Aufsatze (126) eine ebenso interessante wie
geistvolle Zusammenfassung der verschiedenen Strömungen, die er zu einem großen
Zyklus zusammen zu schließen sucht. Mehrere Grundideen, die sich vielfach berühren,
laufen nebeneinander her.
Um das ohnehin verwickelte Thema nicht noch mehr zu erschweren, werden Vor-
läufer der Moralitäten des 16. Jahrhunderts nur insoweit erwähnt, als sie von unmittel-
barem Einflüsse auf Teppichfolgen gewesen zu sein scheinen. 1396 geht zum ersten Male
KLe Mystere de Bien-Avis6 et Mal-Avise^, eine Moralität von beträchtlichem Umfange, in
Szene; 1439 folgt eine Wiederholung in Rennes. Der Gedankengang des Stückes ist
nicht originell; er knüpft an verschiedene frühere und gleichzeitige Quellen an. Der
Inhalt ist kurz folgender: Bien-Avisö, der Mensch, der den schmalen Weg der Tugend
wählt und sich lediglich auf seine guten Seelenkräfte verläßt, und Mal-Avise, das Welt-
kind, beginnen ihren Lebenslauf. Bien-Avise schließt sich der Raison an, die ihn nach
mancherlei Belehrungen zur Herrin Foi, dem Glauben, geleitet. Es folgen endlose Er-
mahnungen und Erläuterungen; nach innerer Einkehr — durch Frau Contrition sym-
bolisiert — landet der gut beratene Erdenpilger bei Dame Confession. Die Läuterung,
die in dem Bekenntnisse zum wahren Glauben gipfelt, sichert Bon Avise eine zahlreiche
Begleitschaft in Gestalt verschiedener Tugenden, die ihn schützen und vor allen An-
fechtungen der Welt bewahren. Es erscheinen Demut, Buße, aufrichtige Reue, Keusch-
heit, Fasten, Gebet, Enthaltsamkeit, Gehorsam, Geduld, Klugheit, Ehre und die Ver-
körperung des Fleißes. Der Lebenslauf des frommen Pilgers endet in den Armen von
Bonne Fin; Engel tragen die Seele des Verklärten gen Himmel.
Entgegengesetzt verläuft die Bahn Mal-Avis6's. Er knüpft zunächst eifrige Freundschaft
mit Faulheit und Aufruhr an. Torheit, Ausschweifung, Verzweiflung, Armut, Mißgeschick
und Dieberei schließen den Reigen, der in tollem Wirbel bei Malefin endet, die den
Sünder erwürgt. Die Seele verfällt den Teufeln. Der Vorgang ist durch allegorische
Bilder reich belebt, auch die Gestalt des doppelsichtigen wandelbaren Glückes — das
eine Antlitz lacht, das andere ist zur Fratze verzerrt — fehlt nicht. Die Namen der
in der Moralität erscheinenden allegorischen Figuren finden sich in späteren Versionen
und dementsprechend in den von ihnen beeinflußten Teppichen fast unverändert
wieder. Die meisten sind leicht erkennbar: Franche Voulente, Raison, Foy, Contricion,
Enfermetö, Humilite, Tendresse, Oysance, Rebellion, Folie, Hoquellerie (Ausschweifung),
Confession, Occupation, Penitence, Satisfaction, Aumosne, Vaine gloire, Jeusne, Oraison,
Desesperance, Povrete, Mallemeschance, Larrecin (Raub), Honte, Chastete, Abstinence
Obedience, Diligence, Pacience, Prudence, Fortune und Honneur.
Bien-Avise, Mal-Avise genießt eine außerordentliche Beliebtheit; das Stück erscheint
noch im 16. Jahrhundert im Drucke (127).
Auf dem gleichen Gedankengange baut sich „L'Homme juste et l'Homme mondain"
auf; er entstammt der Feder des Simon Bougoin und wurde 1508 bei dem bekannten
Pariser Buchhändler Anthoine Verard verlegt. Meister Simon vergrößert das Heer
der Tugenden und Laster noch um einige Gestalten; es erscheinen u. a. La Royne de
Salvation, Charite, Largesse (Freigebigkeit), la Royne de Perdition mit den sieben
Lastern, la Chair, l'Honneur mondain, Folie plaisance, Mauvaise voulente, Obstination,
Prodigalite, Tromperie, Usure, Symonie, Infamete und Desconfort. Die Aufzählung
der Benennungen ist nicht ohne Bedeutung; die den allegorischen Frauengestalten in
der Regel beigefügten Namen ermöglichen eine leichtere Erklärung der verschiedenen
Wandteppiche und Fragmente dieser Gattung, die teilweise unter phantastischen Be-
zeichnungen kursieren.
Die Moralität Bougoin's, der den Titel eines «valet de chambre" König Ludwigs XII.
führt, spinnt die altbekannte Idee, namentlich in dem ersten Teile, etwas langatmig
aus; Paradies und Hölle mit allem Zubehör treten in Erscheinung. Verschiedene Epi-
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