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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0537
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Lille

hirt pflegt eifrige Unterhaltung mit einem alten und einem jungen Bauern. Im Vorder-
gründe treiben sich vier seiner Pflichtbefohlenen herum. Den Hintergrund füllt eine
prächtige Gartenanlage mit reich verzierten Beeten und einem ragenden Torbau. Es
handelt sich um ein hohes, schmales Zwischenfensterstück. Die Signierung ist durch
die Täfelung verdeckt, so daß nicht mit Sicherheit feststeht, ob es sich um das Brüsseler
Vorbild oder um eine der Werniersschen Kopien handelt (Abb. 462). Schlechthin
erstklassig ist die breite Fassung, deren Motive größtenteils einer mythologischen
Brüsseler Folge des Heinrich Rydams — im württembergischen Staatsbesitze — entlehnt
sind. Reich geschwungene Ranken vermählen sich mit prächtig durchgeführtem Blumen-
flor. Lambrequinartig gefaßte Stoffbehänge, auf denen Leuchtervasen prangen, Embleme
der Jagd — Köcher und Bogen —, Singvögel aller Art und feindetailliertes Muschel-
werk beleben und füllen die Bordüre. Die Arbeit kann sich mit den besten Behängen
aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts messen. Die reiche Art der Bordürenlösung
ist typisch für die Wernierssche Manufaktur. Die langweilige Rahmenbordüre, ein
Zugeständnis an den Zeitgeschmack, kommt nicht allzu häufig vor. Charakteristisch
für das Atelier ist die sehr exakte und dabei doch großzügig gehaltene Durchführung
des Blumen- und Pflanzenwerkes, das an Feinheit und Eleganz mitunter Brüssel und
die Gobelins übertrifft. Mit besonderer Vorliebe verwendet Werniers den blühenden
Lorbeer, Bäume mit schneeballartigen, großen Blüten und die Eiche. Die schematische
Behandlung des Baumschlages findet keinen Raum. Typisch für die Manufaktur Meister
Werniers' ist ferner die Vorliebe für Papageien, die ihrer prächtigen Farbenwirkung
halber manchmal etwas wahllos verwandt werden. Sie hocken bei den flämischen
Bauerntänzen auf dem Eichbaum und treiben im deutschen Gebüsch ihr Wesen. Mit
besonderer Feinheit ist der Hintergrund gelöst, der im Gegensatze zu den kräftigen
Farben der Vorderbühne stets in duftigen, meist blauen Tönen gehalten ist. Spring-
brunnen wechseln mit streng geometrischen Teichanlagen, reichen Blumenbeeten mit
zierlichem Rankenwerk, Oleanderkübeln, Torbogen und dergleichen mehr. Über dem
Ganzen schwebt ein zarter Hauch, das Verdienst des Wirkers, nicht des entwerfenden
Malers. Vergleichen wir einen Liller Teppich, etwa das ländliche Fest (Abb. 463) — Nr. III der
Pariser Folge — mit den nach den gleichen Kartons gearbeiteten Reihen von Brüssel und
Oudenaarde (Abb. 455), so zeigt sich unschwer die Überlegenheit Meister Werniers'. Oude-
naarde schematisiert den Baumschlag; Blüten und bunte Vögel erleiden eine starke Ein-
buße, der Hintergrund wird einfacher, es erscheint das übliche hart gezeichnete flämische
Bauernhaus. Die Figuren, die tanzenden Paare, werden gegenüber dem Baumschlage
erheblich verkleinert und verlieren an Bedeutung. Die Brüsseler Folge des J. van der
Borght oder eines anderen zeitgenössischen Wirkers — die Serie ist nicht selten —
kennt trotz der glänzenden Technik nicht jenen warmen Ton, der über der Gesamt-
stimmung hegt, nicht dieses wirkungsvolle Zusammengehen leuchtender Farben mit
dem beruhigten satten Grün des Blattwerks. Dagegen werden in Brüssel die Gesichter
der Figuren zumeist besser durchgeführt. Kurz, Werniers gibt seiner Arbeit mehr
einen teppichartigen, dekorativen, dabei weichen und fließenden Charakter. Brüssel
sucht in der genauen, klaren Wiedergabe des Kartons mehr Bildwirkung zu erzielen.

Trotz der exakten und liebevollen Durchführung der Einzelheiten ist die Manufaktur
des Liller Meisters von seltener Fruchtbarkeit. Es genügt, eine Wirkerei heraus-
zugreifen. Wir finden das schon erwähnte dritte Bild der Pariser Folge, den länd-
lichen Reigen, in der gleichen Ausführung, auch mit der gleichen Rahmenbordüre, auf
einer Helbing-Auktion (9. 10. 1908) in München. In den Größenmaßen (2,45X5,10 m)
steht das Stück der Pariser Folge nach. Die gleiche Darstellung mit dem rechts
und links erweiterten Baumschlag, jedoch ohne Fassung, sah ich 1918 in der Antiqui-
tätenhandlung J. Klausner und Sohn in Berlin (Abb. 463). Die Signierung — in roter
Seide — erscheint in der Bildfläche unten rechts. Es liegt die starke Vermutung nahe,
daß die Wirkerei von Anfang an ohne Bordüre für eine Vertäfelung gearbeitet war.
Immerhin sind mir auch Wernierssche Arbeiten bekannt, die sowohl die Signierung
in der Bildfläche als auch in der Wirkkante tragen. Das Berliner Stück stimmt in der

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