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Goldschmidt, Adolph
Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen Kaiser, VIII. - XI. Jahrhundert (Band 4) — Berlin, 1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.23835#0012
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ZUSAMMENFASSUNG

ENGLAND, FRANKREICH
UND BELGIEN

DIE dem Ärmelkanal benachbarten Landschaften, die in nicht
geringem Grade eine stilistische Einheit bilden, scheinen im
Ii. und 12. Jahrhundert besonders fruchtbar an Elfenbein- oder
vielmehr Walroßschnitzereien gewesen zu sein, doch ist es nicht
leicht, die nördlichen und südlichen immer scharf voneinander zu
trennen. Die englischen und die nordfranzösisch-belgischen Werke
kommen sich bisweilen außerordentlich nahe, und selbst bei greif-
baren Verschiedenheiten fehlt oft ein fester Anhaltspunkt, um sie
dem nördlichen oder südlichen Ufer zuzuweisen. Mit einer gewissen
Sichei heit sind diejenigen Stücke als englisch anzusehen, die eine Par-
allele zu dem sogenannten Winchesterstil in der Malerei darstellen,
der in dem Benediktionale des Aethelwold am Ende des 10. Jahr-
hunderts eines seiner frühesten Beispiele besitzt und mit dem Aus-
gang des I i. Jahrhunderts verschwindet* (vgl. Abb. 26 und 27).
Charakteristisch sind für diesen Stil das Blattwerk und die Gewand-
behandlung. Die vegetabilische Ornamentik bewegt sich in sehr tief
eingelappten Palmetten, deren langgestreckte Einzelblätter am Ende
sich leicht aufrollen oder umlegen, aber dabei doch eine gewisse
Einfachheit bewahren, der Ealtenwurf ist dicht, oft strähnenartig
zusammengezogen und besonders reich an ziekzackförmig beweg-
ten Säumen, die der Gesamterscheinung eine größere Unruhe ver-
leihen. Es gehören diesem Stil besonders Nr. 3—8, 18, 27, 276 an,
auch Nr. 2 und 1 o, bei denen aber durch Abnutzung die Einzelformen
verschwunden sind. Ebenso wie sich in den Handschriftenbildern
dieser Stil von England aus auch über das nördlichste Frankreich
(Bouen, St. Omer, Boulogne usw.) ausbreitet, wird dies auch in den
Schnitzereien der Fall gewesen sein, wie vielleicht bei Nr. 1, deren
Herkunft allerdings nicht feststeht, und in späterer Nachwirkung
bei Nr. 17 und 22.

Die Neigungzu bewegtem Blattwerk bleibt nun zwar auch im 12 .Jahr-
hundert bestehen, aber mit der Wende des 11. Jahrhunderts tritt
eine Veränderung desselben ein, die sich in steigendem Maße bis
in den Anfang des 13. fortsetzt. Die Stengel der Blätter werden
mehr und mehr zu geriefelten Bändern, und die Blätter selbst werden
komplizierter. Ihre Konturen werden muskulöser in einziehenden
und ausladenden Kurven, ihre Mittelrippen bereichern sich durch
einen Perlstab, ihre Bänder rollen sich stärker und plastischer auf
und neigen zu kelchartigen Umfassungen, und Blatt und Blütenform
gehen ineinander über. Man kann sagen, daß an Stelle des natür-
lichen Wucherns eine phantasiereichere Vegetation die Oberhand
gewinnt. Die Tierformen werden realistischer und treten aus ihrer
Homogenität mit den Banken heraus zu selbständigeren Wesen,
die von den Banken umsponnen werden. Und was die Gewandbe-
handlung anbetrifft, so macht sich eine festere Begulierungder Linien
geltend, das Kleinzackige zieht sich zu größeren Zacken zusammen,
die Bewegungen greifen weniger durcheinander und betonen mehr
die Parallele. Dies Letztere scheint auf dem Kontinent noch stärker
der Fall zu sein als in den insularen Klöstern, so daß man geneigt
ist, die schöne Madonna Nr. 14 und ihre Parallele Nr. 20 eher als
nach England in die nordfranzösisch-belgische Gegend zu setzen,
wo sich entsprechende Miniaturen finden wie die Evangelisten
und der Hieronymus in der belgischen Handschrift in Brüssel (Bibl.
Boyale II, 175, Abb. 28) oder der in Stavelot um 1100 von Gode-
rammus gezeichnete Josephus (Brüssel II 1179, v. d. Gheyn 3ob2).

* O. Homburger, Die Anfänge der Malschule von Winchester, 1912. — A. Gold-
schmidt, Der angelsächsische Stil in der mittelalterlichen Malerei, in der Fest-
schrift für Felix Liebermann 1921, S. 271. — H. P. Mitchell in The Burlington
Magazine, Vol. XLI, 1922, S. 176 und XLII, 199.3, S. 162. — H. H. King und
O. M. Dalton in The Antiquaries Journal, Vol. II, 1922, S. 1.

In der Wandlung der Ornamentik vom 11. zum 12. Jahrhundert
stehen etwa Nr. 28 und 3|, im Anfang des zwölften Nr. 33 und
60, weiter entwickelt sind Nr. 11, 12, 23, 3i. Eine scharfe Chro-
nologie aller Stücke vermag ich einstweilen ebensowenig zu geben
wie eine sichere Zuweisung an England oder Frankreich. Zuwei-
len wird die Herkunft oder der Aufbewahrungsort mitsprechen.
Endlich tritt uns am Ende des 12. bis in das i3. reichend eine
Werkstatt entgegen, aus der eine Anzahl kirchlicher und, wie es
scheint, auch profaner Utensilien wie Bischofsstäbe, Pyxiden, Hör-
ner und auch Buchdeckel hervorgegangen sind. Es gehören hier-
zu Nr. 62—73, mit Ausnahme von Nr. 69. Auch hier ist die Ent-
scheidung zwischen England und Frankreich noch nicht sicher
getroffen. Für England sprechen die Unruhe und Dichtigkeit der
Gewandfalten bei einigen Stücken (64, 66, 70, 73), die wie ein
Bückfall in alte Gewohnheiten aussehen und einen Zusammen-
hang mit offenbar englischen Stücken wie Nr. 32 zu haben schei-
nen, für Frankreich spricht die enge Verwandtschaft in der Art
der Ausschmückung der Bischofsstäbe mit französischen Beispielen
wie dem Limosiner Emailstab in der Sammlung Carrand im Flo-
rentiner Nationalmuseuin und dem im Cluny-Museum bewahrten,
aus hartem Holz geschnitzten Stab des heiligen Gibrianus aus Heims,
der bereits dem i3. Jahrhundert angehört*. In England begegnen
wir ähnlichen vegetabilischen Formen in der Bauplastik wie in den
Buchmalereien, z.B. an den südlichen Portalen der Kathedrale von
Ely aus dem Ende des 12. Jahrhunderts oder der Kirche von Kil-
puk, Herefordshire** und in Handschriften wie dem Psalteriuin
Lansdowne 383 im Britischen Museum um 1 170***. Aber auch in
den Handschriften des nördlichen Frankreichs fehlt es nicht an
verwandten Formen, und so bleibt die Frage noch offen. Bezeich-
nend sind bei all diesen Stücken die gedrängte Fülle des Reliefs,
die starke Verwendung von Perlhändern und die barocken Blatt-
bildungen. Weiträumiger in der Füllung und dementsprechend auch
wohl verhältnismäßig früh ist Nr. 72, wo die dreizackartige Pal-
mette (72 b) auf England hinweist.

SPANIEN

DIE figürliche Schnitzerei in Elfenbein und Knochen scheint
im nördlichen Spanien in der romanischen Zeit nur im Gebiet
von Kastilien und Leon in namhafter Weise gepflegt worden zu sein,
wenigstens sind uns in Katalonien weder unter den vorhandenen
Kunstwerken noch in der Literatur Arbeiten dieser Gattung über-
liefert, und Südspanien produzierte zwar zahlreichearabischeGegen-
stände in Elfenbein, die aber nur in geringem Maße mit menschlichen
Figuren geschmückt, meist von rein ornamentalem Charakter im so-
genannten hispano-mauresken Stil gebildet sind und wegen ihres
orientalischen Charakters in der vorliegenden Publikation nicht
berücksichtigt wurden.

Bezeichnen wir die ganze nordspanische Produktion vorläufig als
kastilianisch, da die Entstehungsorte im einzelnen nicht festgestellt
sind und bei vielen Objekten von Leon im Westen bis zu den
Grenzen von Navarra und Aragon im Osten schwanken können, so
heben sich innerhalb dieses Gesamttitels drei Gruppen deutlich von-
einander ab, die zeitlich aufeinanderfolgen und ihre Parallele auch
in den Erzeugnissen der Buchmalerei finden.

Die erste Gruppe entspricht den mozarabischen Handschriften, wie
den frühen Beatuskommentaren und dem Vigilanus-Kodex im Es-
korial, aus dem Ende des 10. Jahrhunderts und ist mit ihnen in die
gleiche Zeit zu setzen. Die Figuren sind sehr flach im Belief und von

* J. J. Macquart, Le Trc'-sor de Reims, 1843.
Prior und Gardner in Architectural Review, Vol. XII, 1902, Fig. 35.
*** Abb. bei Mäle, LArt du XIIme siccle, p. 145.
 
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