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Grautoff, Otto
Die Maske und das Gesicht Frankreichs: in Denken, Kunst und Dichtung — Stuttgart, Gotha: Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G., 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.53148#0072
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WIDERSPRÜCHE KEINE SCHWÄCHE

Christof auf Widersprüche hin durchsuchen. Er wird einen ganzen
Korb voll Zusammentragen können. Das Alter und die finanziellen
Verhältnisse des Helden sind voller Widersprüche. Ankunft, Abfahrt
und Dauer von Reisen sind vielfältig problematisch. Einmal kommt
es sogar vor, daß Johann Christof an einem Tage im Frühling seine
Wohnung verläßt und am gleichen Tage im Herbst zurückkehrt.
Seiten könnte man mit diesen Widersprüchen füllen. Geschähe es
hier, so würden seltsamerweise Wirkung und Erfolg der Rollandschen
Dichtungen nicht unterbunden werden, höchstens könnte einigen vor-
übergehend der Genuß am Johann Christof gestört werden. Daran
würden sie Ärgernis nehmen und dem doktrinären Pendanten für
seine Untersuchung keinen Dank zollen. Der Deutsche ist nicht nur
an die Problematik großer Menschen gewohnt, er sucht sie; er liebt
sie. Ihn stört nicht, daß die größten Geister seines Volkes, Goethe,
Heine, Schopenhauer, Nietzsche und viele andere außer Bekennt-
nissen zu ihrem Volk auch Kritik, zuweilen scharfe Kritik an ihrem
Vaterland geübt haben. Dieser radikale Individualismus entspricht
dem deutschen Aristokratismus, seinem Verständnis für den über-
legenen Geist. Man lese nach, wie Goethe sich über diese Probleme
zu Eckermann geäußert hat, und erinnere sich Konrad Ferdinand
Meyers Apotheose des Hutten:
In seiner Seele kämpft, was wird und war,
Ein keuchend hart verschlungen Ritterpaar.
Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet —
Mich wundert’s nicht, daß er Dämonen sieht.
Der Franzose dagegen perhorresziert das Besondere, das Aus-
gezeichnete, verfolgt es mit Neid und Bosheit und sucht es herabzu-
drücken. Franzosen haben in bejammernswerter Kleinlichkeit während
des Krieges hohnvoll das Widerspruchsvolle deutscher Geisteshelden
an den Pranger zu stellen sich bemüht. Nicht ein Deutscher, ein
Franzose, Paul Hyacinthe Loyson, hat 1916 in einem dickleibigen
Buch Romain Rolland einige Dutzend Widersprüche nachgewiesen.
Die Streitschrift war ein widerliches Kampfmittel im Kriege; aber sie
ist nicht uninteressant, sie hellt vieles in Rollands Wesen auf, doch
ihr Hauptzweck, Rolland zu vernichten, ist für alle Nichtlateiner, für
alle, die in der Nivellierung des Geisteslebens kein Ideal erblicken,
verfehlt. Ja, die Absicht des Verfassers ist so kleinlich, dürftig, eng-
brüstig, daß wir nun erst recht unterstreichen, was E. R. Curtius über
Rolland geschrieben hat: „Daß alles Sein seine Wirklichkeit nur in
der Bewegung seines Flusses hat, daß alle Formung Erstarrung be-
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