HERAKLITIS CHES WELTGEFÜHL
deutet, daß der Satz des Ephesiers gilt navza qsl. Dieses hera-
klitische Weltgefühl hat Rolland in seinem Roman erneuert, wie
Bergson in seiner Philosophie. Das Wissen vom Leben in seiner
unmittelbaren Bewegtheit ist das Grunderlebnis von Rolland, und der
nährende Saft seines Werkes.“ Wenn wir hier den Zentralpunkt des
Rollandschen Wesens erfassen, so erscheinen die Widersprüche in
seinen Schriften gerade als Bereicherung und seine politischen Irrungen
als Anomalien an der Peripherie.
Romain Rolland hat uns in seinem Johann Christof die Vision
einer Welt geschenkt, gesehen durch das Spektrum einer einzigen
menschlichen Seele. Durch den Charakter Christofs, durch dessen innere
Wahrhaftigkeit, die alle Schwächen und alle Brutalitäten seiner Zeit
in ihrer ganzen Nacktheit sehen will, durch die unerbittlich hohen
Anforderungen an sittliche Gesundheit und künstlerische Reinheit,
dann aber auch durch eine überströmende Lebensliebe, die selbst das
Häßliche bejaht und noch den Schmerz als Lebenssteigerung empfindet,
wird das dargestellte Weltbild bedingt. Sie macht das Werk zu einem
glühenden und mitreißenden, besonders da Johann Christofs Persön-
lichkeit als eine menschlich so große gebaut ist, daß sein Weltbild
das denkbar weitgespannteste wird.
Durch dieses Universum zieht sich das Leben Christofs gleich
dem glänzenden Band eines Stromes hindurch. Harmlos und schmal
wie ein Bach auf kühler ärmlicher Höhe, fängt es mit den ersten
Tagen des Neugeborenen an, strömt dann breiter und breiter werdend
durch die Wirrnisse der Jünglingsjahre, schaut Städte und Seelen-
landschaften, nimmt die Quellen anderer Leben in sich auf, bäumt
sich über Hindernisse fort, stürzt in jähem Fall, um dann wieder
majestätisch weiter zu fließen, befruchtet und tränkt und schenkt sich
endlich dem offenen Meer.
Lösen wir das konkrete Leben Christofs aus der Fülle der Epi-
soden und Nebengestalten, die sich mit ihm verschlingen, es ergänzen,
es beschatten oder beleuchten, so haben wir schon in der Zentrums-
achse einen Reichtum, der drei andere Bücher aufwiegt: — wir erleben
das Werden eines Menschen in dreifacher Beziehung: zuerst als ein
persönliches Werden, als eine Entwicklung aus sich selbst zu sich
selbst. Ein Werden, das in der ewigen Zeitlosigkeit der Kindheit
anhebt, die — gleich dem Bach in Schneeregionen — noch nichts
von der kulturell bedingten Epoche des eigenen Lebenslaufes weiß.
Wir sehen ein musikalisch genial begabtes Kind in einer deutschen
Mittelstadt aufwachsen, wie es in jedem Lande und in jeder Zeit auf-
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deutet, daß der Satz des Ephesiers gilt navza qsl. Dieses hera-
klitische Weltgefühl hat Rolland in seinem Roman erneuert, wie
Bergson in seiner Philosophie. Das Wissen vom Leben in seiner
unmittelbaren Bewegtheit ist das Grunderlebnis von Rolland, und der
nährende Saft seines Werkes.“ Wenn wir hier den Zentralpunkt des
Rollandschen Wesens erfassen, so erscheinen die Widersprüche in
seinen Schriften gerade als Bereicherung und seine politischen Irrungen
als Anomalien an der Peripherie.
Romain Rolland hat uns in seinem Johann Christof die Vision
einer Welt geschenkt, gesehen durch das Spektrum einer einzigen
menschlichen Seele. Durch den Charakter Christofs, durch dessen innere
Wahrhaftigkeit, die alle Schwächen und alle Brutalitäten seiner Zeit
in ihrer ganzen Nacktheit sehen will, durch die unerbittlich hohen
Anforderungen an sittliche Gesundheit und künstlerische Reinheit,
dann aber auch durch eine überströmende Lebensliebe, die selbst das
Häßliche bejaht und noch den Schmerz als Lebenssteigerung empfindet,
wird das dargestellte Weltbild bedingt. Sie macht das Werk zu einem
glühenden und mitreißenden, besonders da Johann Christofs Persön-
lichkeit als eine menschlich so große gebaut ist, daß sein Weltbild
das denkbar weitgespannteste wird.
Durch dieses Universum zieht sich das Leben Christofs gleich
dem glänzenden Band eines Stromes hindurch. Harmlos und schmal
wie ein Bach auf kühler ärmlicher Höhe, fängt es mit den ersten
Tagen des Neugeborenen an, strömt dann breiter und breiter werdend
durch die Wirrnisse der Jünglingsjahre, schaut Städte und Seelen-
landschaften, nimmt die Quellen anderer Leben in sich auf, bäumt
sich über Hindernisse fort, stürzt in jähem Fall, um dann wieder
majestätisch weiter zu fließen, befruchtet und tränkt und schenkt sich
endlich dem offenen Meer.
Lösen wir das konkrete Leben Christofs aus der Fülle der Epi-
soden und Nebengestalten, die sich mit ihm verschlingen, es ergänzen,
es beschatten oder beleuchten, so haben wir schon in der Zentrums-
achse einen Reichtum, der drei andere Bücher aufwiegt: — wir erleben
das Werden eines Menschen in dreifacher Beziehung: zuerst als ein
persönliches Werden, als eine Entwicklung aus sich selbst zu sich
selbst. Ein Werden, das in der ewigen Zeitlosigkeit der Kindheit
anhebt, die — gleich dem Bach in Schneeregionen — noch nichts
von der kulturell bedingten Epoche des eigenen Lebenslaufes weiß.
Wir sehen ein musikalisch genial begabtes Kind in einer deutschen
Mittelstadt aufwachsen, wie es in jedem Lande und in jeder Zeit auf-
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