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KLASSIZISMUS, NATIONALISMUS,
ABSTRAKTION

Die Relativität der romantischen Strömung im französischen
Geistesleben, das Renegatentum führender Romantiker be-
dingte im Kapitel „Romantik“ bereits Allgemeines, Grund-
sätzliches, sowie gelegentlich des Wandels Einzelner auch Besonderes
über den Klassizismus auszusprechen, das in diesem Abschnitt nicht
wiederholt werden kann und soll. Es bleibt Geist und Charakter
des heutigen Klassizismus in Frankreich sinnfällig zu machen.
Auf eine Rundfrage der „Renaissance“ über den Klassizismus
antwortete Andre Gide am 8. Januar 1921: „Je ne pense pas que
les questions que vous me posez au sujet du classicisme puissent
etre comprises ailleurs qu’en France, la patrie et le dernier refuge
du classicisme . . . II me semble que les qualites que nous plaisons
ä appeler classiques sont surtout des qualites morales; et volontiers
je considere le classicisme comme un harmonieux faisceau de vertus,
dont la premiere est la modestie“.
Nimmt man diese Deutung des Klassizismus an, so wird verständlich,
warum in meiner Psychologie Frankreichs ein besonderer Nachdruck
auf die Literatur der Moralisten gelegt worden ist. Der äußerliche
Erfolg der moralistischen Literatur macht ihre Hervorhebung nicht zu
einem Akt der Willkür. Marie Chapdelaine ist der größte buchhändler-
ische Erfolg seit Zola und noch dazu ein schnellerer als der irgend-
eines Bandes der Rougon-Macquart-Reihe. Ausschlaggebend für die
Haltung der ganzen Zeit aber bleibt der Geist des Buches: Les qua-
lites morales. „L’oeuvre d’art classique raconte le triomphe de l’ordre
et de la mesure sur le romantisme interieur“, fährt Gide fort. Dieser
Triumph ist der Triumph der qualites morales. Ich schließe, um die
Schwächen, die Bedingtheiten, die Grenzen des Klassizismus aufzu-
zeigen, an die grundsätzlichen Worte Gides ein Zitat Henri Berauds,
der in den Cahiers d’aujourdhui in einem Pamphlet gegen Gide und
seinen Kreis eine scharfe Ironisierung des Klassizismus so formulierte:
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