Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0023
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
347

Menschen, die sich mir unter ganz anderen Gesichtspunkten,
als den bisher eingenommenen, darbieten. Eine gewisse Zeit-
losigkeit umgibt sie. Ich frage immer weniger danach, was
sie ihren Mitlebenden einst werth waren, sondern was sie mir
heute werth sind. Woher stammt der seltsame Haß der
Socialdemokraten gegen die Geschichte? Der der jüngeren
Schriftsteller aus der Schule Jbsen's gegen die ältere Litera-
tur? Der der Wagnerianer gegen die ältere Musik? Der
der Secessionisten gegen die bisherige Malerei? Was die
Anhänger dieser neuen Richtungen hervorbringen, scheint zum
Theil kindisch, zum Theil nicht einmal wahr; eine Thatsache
aber bleibt der Zudrang des Publicums. Man erwartet
Etwas. Es ist nicht bloße Neugier. Ein Bedürfniß nach
frischen, geistigen Gebilden hat gleichmäßig überall die Mensch-
heit ergriffen. Abgethanes soll nicht länger auf uns lasten.
Bürger's „Ach, laß sie ruh'n die Todten!" ist die Inschrift
auf der Stirnseite des Palastes der Gegenwart. Wenn ich
Homer, Shakespeare, Goethe und Raphael nicht auf die große
Proscriptionsliste setze, so geschieht das, weil deren Werke eine
dauernde übermächtige Gegenwart umgibt, die in allen Zeiten
sich aus eigener Kraft zu erneuen scheint, bei der, wie bei
den großen Gestirnbahnen, unsere gemeinen Zahlen nichts be-
deuten, sondern wo mit Lichtjahren gerechnet werden muß.
Wir stehen am Abschlüsse einer weltumfassenden geistigen Eis-
periode, und das plötzliche Schmelzen der Gletscher, das
Herunterrauschen ungeahnter Fluchen ist das, was uns be-
ängstigt, aber auch begeistert. Aus den Gedichten der Ada
Negri klingt die athemlose Gewaltsamkeit wieder, in der das
italienische Dasein heute vorwärts geht. Lauter Explosionen.
Der unaufhörliche Donner dieser literarischen Kanonade ist
 
Annotationen