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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0022

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Geschichte erlebt. Was bedeuten Rom und Griechenland, dem
gegenüber, heute? Wir sind freilich noch daran gewöhnt, den
ungeheueren Körnerhaufen dessen, was das Alterthum bietet,
immer wieder umzuschaufeln; und weil kein Brot mehr daraus
wird, glauben wir, es fehle an der Masse, es müsse mit noch
größerer Anstrengung gesucht, gegraben und in Museen auf-
gestellt werden, was die Erde irgend hergibt. Aber der
Glaube an die Zauberkraft dieser Sammlungen ist verloren,
und die Zeiten werden bald kommen, wo man ernsthafter
fragen wird, zu welchem Nutzen denn mit soviel Geld diese
Aufstapelungen des ewig Fragmentarischen in Scene gesetzt
werden? Neues verlangen wir. Das Neue sagen die Zeitungen
zuerst, Ruhm und Ehre verbreiten sie. An der Spitze unserer
literarischen Bewegung marschiren sie, und derselben Zeitung,
deren Verlogenheit wir heute beklagen, entnehmen wir am
nächsten Tage, was uns zu Zustimmung und Dankbarkeit
bewegt.
Den Zeitungen zumeist verdanken Ada Negri und Jo-
hanna Ambrosius Stil und Weltanschauung. Wenn von mir
verlangt würde, daß ich exact formulirte, was in den Ge-
dichten der beiden Frauen mich ergreift, so käme ich über den
Begriff „Geist der Gegenwart" nicht hinaus. Das ist die
vornehmste, unaufhörliche Lehre unserer Journale: die Gegen-
wart höher zu schätzen, als die Vergangenheit. Ich weiß,
wie ich oben ausführte, den Grund nicht, warum das Ver-
gangene für mich zu verblassen begonnen hat. Ueber das
Wort „sich auflösen" käme ich auch hier nicht hinaus. Das
kunstvoll von Gervinus zuerst aufgebaute Gerüst der deutschen
Literaturgeschichte steht vor mir nicht mehr aufrecht. Ich sehe
keine „romantische Schule" mehr, sondern einzelne dichtende
 
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