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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0021

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rücksichtsloseste Bild des täglichen Daseins. In wildem,
natürlichem Drange nehmen sie es in sich auf und geben es
weiter. Journale sind die natürliche, unentbehrliche Nahrung.
Wir lesen sie, wie eine Herde eine Wiese abweidet. Ohne
Wahl wendet sie sich dahin und dorthin und zermalmt mit
den Zähnen Blumen und Gras, was gerade dazwischen
kommt. Journale lesen wir immer. Beim Frühstück, Mittags,
beim Abendessen, in der Pferdebahn, auf der Eisenbahn. Wo
getrunken und gegessen wird, verlangen wir eine Zeitung als
Labsal. Wir tragen sie mit uns, wir haben immer Geld
und Platz für sie übrig. Wir machen'dem Blatte keine Vor-
würfe, wenn es uns empört; wir danken ihm nicht, wenn es
uns amüsirt, interessirt, nicht einmal, wenn es uns begeistert.
Ein Dasein ohne Zeitungen wäre nicht mehr denkbar. Die
Zeitung ersetzt Freundschaft, Vertrauen, beinahe die Familie.
Selbst die Annoncen lesen wir und träumen uns auf einen
Moment in die Verhältnisse Derer, welche kaufen, miethen,
verkaufen, vermischen. Unterricht geben oder nehmen wollen,
Dienste jeder Art, Wohnungen, Mädchen, Bediente, Männer,
Bräute oder Kinder suchen, die sie gut zu erziehen versprechen.
Ein ungeheuerer geistiger Verkehr des heutigen Tages, der
zwischen den einander unbekannt Bleibenden waltet,, an dem
unbekannt und unerkannt wir selber theilnehmen. Wie wären
ohne die energische Arbeit anonymer Zeitungsschreiber, die nur
den einen Ehrgeiz hatten, so viel zu sehen und zu hören als
möglich und so rasch und genau als möglich zu schreiben, die
herrlichen Tage von Friedrichsruh zu einem Feste geworden,
an dem das ganze deutsche Volk zu gleicher Zeit theilnahm?
So daß es war, als habe jeder Deutsche Bismarck gesehen
und gehört! Das ist die Art, wie die Gegenwart ihre eigene
 
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