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Grosse, Ernst
Die Anfänge der Kunst — Freiburg i. Br., Leipzig: Mohr, 1894

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https://doi.org/10.11588/diglit.63125#0026
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seiner „Critique scientifique“ mit leichter Mühe gezeigt, dass
alle diese Begriffe, welche Taine so sicher handhabt wie ein
Jongleur seine Bälle, höchst fragwürdige Fabrikate sind. Der
einheitliche Charakter einer nationalen Kunst soll zunächst auf
dem einheitlichen Kacencharakter der Nation beruhen. Allein
dieser einheitliche Kacencharakter, dessen Existenz Taine als
selbstverständlich annimmt, ist in Wirklichkeit nirgends zu ent-
decken ; — und zwar fehlt er nicht bloss den grossen Kultur-
völkern, von deren Kunst Taine redet, sondern er lässt sich
nicht einmal bei den Naturvölkern nachweisen. — Ebenso
haltlos sind die Vorstellungen über das Klima und seine Ein-
flüsse auf den Charakter des Künstlers. Taine erklärt frei-
lich nirgends, was unter dem Ausdrucke Klima zu verstehen
sei; dafür behauptet er um so entschiedener, dass eine be-
stimmte Form seines unbestimmten Klimas den Künstlern und
damit ihren Werken ein bestimmtes einheitliches Gepräge ver-
leihe. Man muss die Kühnheit dieser Behauptung bewundern,
wenn man sich erinnert, dass z. B. Chateaubriand und Flau-
bert, beide derselben Gegend des nördlichen Frankreich,
Burns wie Carlyle dem schottischen Hochlande, Shake-
speare wie Wycherley wie Shelley wie Browning wie
Swinburne wie Dickens wie Kipling dem englischen Klima,
Haller wie Gessner wie Meyer wie Keller wie Boecklin
der deutschen Schweiz angehören. — Endlich soll der einheit-
liche Geschmack des Publikums im Sinne der natürlichen
Zuchtwahl auf die Entwicklung der Kunst einwirken. Aber
eine Einheit des Geschmackes giebt es in einem Volke ebenso
wenig als eine Einheit der Kace. „In einem Milieu“, sagt
Hennequin, „das eine sehr bestimmte Physiognomie — leichte
Heiterkeit und lärmende Beweglichkeit — zu besitzen scheint,
in dem Paris der Gegenwart, reicht der Roman von Feuil-
let zu Goncoürt, von Zola zu Ohnet, die Erzählung von
Halevy bis Villiers de l’Isle Adam, die Poesie von
Leconte de l’Isle zu Verlaine, die Kritik von Sarcey zu
Taine und Kenan, die Komödie von Labiche zu Becque,
 
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