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Gruner, Ludwig
Die Basreliefs an der Vorderseite des Doms zu Orvieto — Leipzig, 1858

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https://doi.org/10.11588/diglit.8273#0009
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fleht dieser seine Mildherzigkeit an. Die Leidenschaft erstickt jeden edlern Trieb und es fliesst
auf Erden das erste Menschenblut beim Brudermord.

Tafel 17. Enos und Tubalkain.

An Abel's Statt tritt durch Gottes Gnade als Eva's dritter Sohn Seth. Diesem wurde Enos
geboren, von dem es heisst, dass er zuerst anfing den Namen Gottes anzurufen. Wir sehen dies
dadurch versinnlicht, dass die Mutter ihr kleines Söhnlein im Schreiben unterweist und ihn das Wort
in ein Buch einzeichnen lässt. Hiermit beginnt die Schrift, die nachmals zur «Heiligen» ward.

Gegenüber sehen wir Tubalkain mit zwei Hämmern bei einem Glockenwerk beschäftigt. Als der
Erfinder der Metallarbeit zeigt er sich erfahren in allerlei Künsten. Räder, sinnig verzahnt, setzen die
aus verschiedenen Tönen gestimmten Glöcklein in Bewegung, die er dann, wie es sein Spiel verlangt,
im Takt anschlägt. Es scheint, dass in dieser Darstellung die Sage vom Jubal, der als der Vater des
Cither- und Saitenspiels genannt wird, mit der von Tubalkain in eins zusammengezogen worden ist.

Tafel 18. Noah zeichnet den Plan zur Arche auf.

Die letzte Darstellung dieser Bilderreihe scheint sich auf Noah zu beziehen, welcher eine Rolle
vor sich ausgebreitet hält und mit dem Zirkel die ihm von Gott vorgeschriebenen Maasse in den Plan
einträgt, nach welchem er die Arche bauen sollte. Er ist als sinniger Werkmeister gefasst, welcher mit
Sorgfalt und Verstand den Gegenstand seiner Eingebung regelrecht bearbeitet.

Diese Weise der Schilderung eines durch Gottes unmittelbares Einschreiten veranlassten Ereig-
nisses ist zwar neu und überraschend, aber nicht befremdlich. Die Weiterentwickelung des in der
Erzählung der Heiligen Schrift angedeuteten Grundgedankens erfolgt vor unsern Augen auf naturgemässe
Art. Der fromme Erzvater ist mit Andacht in den ihm von Gott selbst zur Ausführung anvertrauten
Bauplan beschäftigt. Kein selbstischer Trieb macht sich in seinem künstlerischen Streben bemerkbar.
Er erfüllt nur die Gebote Gottes und wird dadurch zum Erretter des Menschengeschlechts.

Ist unsere Deutung richtig, so gewinnt dieser erste Pfeiler, an welchem Darstellungen aus der
Urzeit der Menschheit in dramatischer Folge aufsteigen, nicht blos einen sehr schicklichen, sondern
auch einen wahrhaft trostreichen Abschluss. Nachdem wir gesehen haben, wie gnädig der Herr von
Anbeginn gewesen und wie übel es Ihm das trügerische Menschenherz gelohnt hat, nachdem wir das
erste Menschenpaar tief haben sinken und seine Nachkommenschaft in noch tieferes Verderben haben
fortstürzen sehen, wird uns nun endlich der Weg zur Wiederkehr gezeigt, der einzige, welcher dem
sündhaften Menschen offen gelassen ist.

Noah findet Gnade vor dem Angesicht des Herrn um seiner Frömmigkeit willen. Nur rückhalts-
lose Ergebung in den Willen Gottes vermag etwas gegen Dessen Strafgerichte. Ruhig und unbesorgt
sehen wir ihn daher arbeiten an dem Plan, der den Meisten eine Thorheit erschienen sein mag, als
sich die grosse Wasserflut über die Erde auszugiessen begann. Aber während die kühnsten und
gewaltigsten Anstrengungen der Kinder der Welt nutzlos bleiben mussten, wurde die Arche mit Noah
und den Seinen, nebst Allem, was seinem Schutz anvertraut worden war, von denselben Gewässern,
welche Alles ohne Unterschied niederrissen und zerstörten, was in ihrem Weg wrar, sanft gehoben und
über Tod und Gefahr hinweggetragen.

Die fragliche Darstellung scheint mir bei Anwendung der einfachsten und anspruchslosesten Mittel
den Sinn des biblischen Berichts in einer sehr befriedigenden Weise wiederzugeben und von dem Geist
echter Frömmigkeit erfüllt zu sein.

Zweiter Pfeiler.

Die Bilderreihe des zweiten Pfeilers bietet dem Ausleger die meisten Schwierigkeiten dar. Manche
Darstellungen sind kaum mit Sicherheit zu entziffern. Aber auch da, wo wir bis zur Bestimmung des
Gegenstands, welcher gemeint ist, vordringen, hat die schriftliche Darlegung des Gedankenzusammen-
hangs und der einzelnen Systeme der Compositum mit grossen Uebelständen zu kämpfen.

Um diese einigermaassen zu lieben und auszugleichen, müssen wir Diejenigen, welche unsere
Auseinandersetzung zu lesen Geduld genug haben, ersuchen, immer von neuem zu der synoptischen Tafel 19
zurückzukehren, damit sie die einzelnen Figuren und Bilder an der gehörigen Stelle einreihen lernen.

In der allgemeinen Einleitung haben wir bereits angedeutet, dass wir in dem zu Fusse des
Arabeskenbaums eingeschlafenen Erzvater den Abraham zu erkennen glauben, von dem I. Moses XV, 4 2
berichtet wird, dass er in einen tiefen Schlaf versunken sei und dass an jenem Tage der Herr einen
Bund mit ihm gemacht habe.

Der Baum, welcher zu seinen Häupten emporsteigt und den durch das eingesargte Geripp ange-
deuteten Todtenacker hoch überragt, wird aus den sechs guten Königen, deren Reihe David mit der
Harfe eröffnet, gebildet und in seiner Krone erscheinen die Heilige Jungfrau und der Sohn Gottes, aus
der Wurzel Jesse entsprossen, selbst.

Zu beiden Seiten des Stammes erscheinen Propheten und unter ihnen auch eine prophetische
Frau in freudigem Verzücken, preisend die Wunder Gottes und beseligt durch die trostreichen Gesichte,
welche sie geschaut.

Diese selbst treten, in Bilder gefasst, zwischen den verschlungenen Zweigen des Stammbaums
Christi zu Tage. Sie bilden eine ununterbrochene Reihe von Ereignissen, welche die Kreuzigung, so
wie sie den Propheten sich dargestellt, beschliesst.

Neben diesen Hauptbildern sind rechts und links zahlreiche Gruppen angebracht, wrelche die heilige
Ueberlieferung veranschaulichen, die auf dem Wege der Ueberlieferung von Mund zu Mund hinabgelangt war
bis zu den wenigen verstreuten Gläubigen, die Christus bei seinem Erscheinen auf Erden noch vorfand.

Hoch oben sehen wir den Engel des Herrn die Heilige Jungfrau als Mutter Gottes begrüssen und
den grössten der Propheten vor dem Thron des Weltheilands erscheinen und die Erfüllung der Schrift
und ihrer Verheissungen rühmen und preisen.

Tafel 20. Propheten.

Die Reihe der Propheten, welche sich um den Stammbaum Christi versammeln, wird durch einen
jener gottbegeisterten Männer eröffnet, welche auf das alleinige Heil in dunkeln und erleuchteten Bildern
beständig hinwiesen. Er deutet mit ausgestreckter Rechten und mit dem Zeigefinger auf die Krone des
Baums, welche Jesus Christus selbst ist.

Die beiden andern, welche er anzureden scheint, halten eine ruhigere Stellung ein, zeigen aber
einen gleich festen Glauben und halten wie jener Schriftrollen ausgebreitet, in denen ihre Gesichte und
Prophezeiungen eingezeichnet stehen.

Da diese Gestalten jedes unterscheidenden Beiwerks ermangeln und leider auch nicht mit Namens-
bezeichnungen versehen sind, so müssen wir darauf verzichten, die Bedeutung der einzelnen Persönlich-
keiten, welche gemeint sein könnten, auch nur vermuthungsweise festzustellen.
 
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