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Guhl, Ernst Karl [Hrsg.]; Caspar, Josef [Hrsg.]; Lübke, Wilhelm [Bearb.]
Denkmäler der Kunst: zur Übersicht ihres Entwicklungs-Ganges von den ersten künstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart (Band 1): Denkmäler der alten Kunst — Stuttgart, 1851

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https://doi.org/10.11588/diglit.1215#0007
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VORWORT.

Unsere Zeit ist reif geworden für ein Gesammt-Bewusstsein davon, dass nur die Geschichte
mit ihren lebendigen Gestalten und Thaten Grundlage wirklicher Bildung für die Gegenwart und
lebenskräftiger Förderung in die Zukunft sein kann. Der geschichtliche Sinn aber, mit dessen
Erwachen die Menschheit eine neue Aera ihrer Entwickelung begrüsste, hat sich von Hause aus
mit besonderer Gunst auf das grosse Auferstehungsfeld des Schönen gelenkt. Kaum hat sich
denn auch in neuern Zeiten ein Gebiet so erweitert und erleichtert, als das der bildenden Künste.
Nachdem ihre Schöpfungen lange vergraben, vergessen und verwüstet waren, haben sich Hun-
derte von Geistern und Händen bewegt, aus dem unerschöpflichen Schatze Altes und Neues der
Menschheit zu Genuss und Bildung darzubieten. Eine Entdeckung und Veröffentlichung folgt noch
immer auf die andere und bald wäre die unermessliche Masse auf’s Neue wieder nutzlos zu Haufen
gelegt, wenn nicht zugleich an Zusammenfassung, Ordnung und Uebersicht gearbeitet und allge-
meine Nutzniessung erzielt würde. Was auf dem Standpunkte des heutigen Forschens und Wissens
nöthig und möglich geworden ist, hat das „Handbuch der Kunst-Geschichte von Prof. Dr. Kugler“
zu hohem Danke des In - und Auslandes erstrebt. Eine glückliche Ergänzung desselben gibt
uns die „Geschichte der bildenden Künste von C. Schnaase.“ Unbekanntes und Verkanntes
finden wir nun mit längst gefeierten Herrlichkeiten namentlich auch zu Deutschlands Preis an
einen Faden gereiht, der, obwohl noch mit manchem Knoten, von der Wiege der Kunst bis zur
heutigen Rückbildung der vielfach barbarisirten Welt in’s Schöne die wunderbaren Offenbarungen
des künstlerischen Genius unter allerlei Volk in eine grosse Entwickelung verknüpft.
Aber wenn irgendwo der Buchstabe tödtet, wenigstens nicht lebendig macht, so ist es in
der Kunst. Und selbst der Geist, der in ihr ist oder mit ihrer Behandlung verknüpft wird, hin-
terlässt keine Saatfurchen, wo nur gelesen und gehört, nicht gesehen werden soll. Gerade je
näher das bisher Zerstreute sich zusammen findet und das für Eines Gehaltene sich trennt, desto
lebendiger muss das Verlangen nach Anschauung rege werden.
Glücklich, wem es vergönnt ist, an den Wunder-Werken der idealen Welt sich in unmittelbarer
Betrachtung zu begeistern. Aber der Mehrzahl der Lernenden, deren an der Geschichte gereinigtem,
erhelltem und gestärktem Schönheits-Gefühle sich die Kunst zu jener Rückbildung der Gegenwart
in sie an vertrauen möchte, ist auch bei erleichtertem Verkehre nur Weniges selber zu schauen ver-
gönnt. Selbst den Begünstigsten ist es nicht möglich, die Eindrücke sich in entsprechender Stärke
zu bewahren oder sie in ihrer Zeitfolge auf sich wirken zu lassen. Und ganz unmöglich ist es, auch
nur die Haupt-Werke zur Vergleichung neben einander zu haben. Die Vergleichung aber ist die
Mutter des Urtheils und ohne gründliches, d. h. geschichtliches Urtheil kommt die Kunst nimmer-

mehr über einen bodenlosen Dilettantismus und Anachronismus hinaus. Nach der flachen Erscheinung,
nach losem Gefühle und loserer Mode sich bewundernd oder tadelnd auf eine Welt stürzen, in der
die zartesten Geister weben und die feinsten Zusammenhänge von Vergangenheit und Gegenwart
zu Grunde liegen, — dieser falsche Sinn in Uebung und Beurtheilung der Kunst muss aufhören,
sobald zusammenhängende Betrachtung ermöglicht ist dessen, was da geworden ist. Und die
Barbarei und Knechtschaft der Mode wird aufhören, sobald die Anschauung der Kunst als einer
mit den tiefsten nationalen Lebens - Elementen Hand in Hand gehenden geschichtlichen Macht
eine allgemeinere geworden sein wird.
Erst mit einem Atlas kann die Kunst-Geschichte ihren siegreichen Einzug namentlich
in die Schulen und Hörsäle halten, von denen auch die Kunst und Schönheit ihre Zukunft
erwartet. Muss selbst dem mit der Kunst-Welt und Kunst - Geschichte schon Vertrautem die
Möglichkeit willkommen sein, jederzeit das Wichtigste und Bedeutsamste der verschiedenen
Epochen übersichtlich zur Hand zu haben, so ist vollends für den Anfänger die Verbildlichung un-
entbehrlich und ohne sie jede geschriebene Kunst-Geschichte ein Buch mit sieben Siegeln.
Der Gedanke einer Kunst-Geschichte in Bildern ist nicht neu. Aber wie unbrauchbar nach
Inhalt und Form für Heute das bekannte und verdienstliche Werk von dAgincourt ist, weiss Jedermann.
Ausserdem findet der Vortrag und das Studium der Kunst-Geschichte kein umfassendes Hülfs-Mittel
zur Hand. So soll denn in diesen Blättern die ganze Entfaltung der bildenden Künste sich veran-
schaulichen so gut als auf so wenig Raum so Vieles sich zusammendrängen lässt. Es gilt, in
grössere und kleinern Umrissen wo es nöthig ist in ausgeführterer Darstellung am Leitfaden eines
stetig auf das Handbuch sich zurück beziehenden Textes, die möglichste Verständigung über den
Werde-Gang der Künste bei den verschiedenen Kunst-Völkern nach ihren am meisten hervor-
tretenden und bezeichnenden Schöpfungen jeder Zeit zu geben. Alle Sorgfalt nimmt die ent-
sprechende Auswahl und getreue Wiedergabe unter der Leitung von Herrn Professor Voit in
München in nothwendig oft kleinem Maasstabe in Anspruch. Aber vereinigte Kräfte widmen sich
auch mit Liebe und Treue dem Werke, dessen schönste Früchte dem Volke reifen mögen,
welches dem Idealen am nächsten steht, und zugleich für individuelles und organisches Leben den
mütterlichsten Sinn hat. Die Ehre des Werkes soll jedenfalls dem Lande gebühren, welches
mehr als einmal ein neues Kunst-Alter begonnen und den Schöpfer der Kunst - Geschichte
geboren hat.
Dr. H. MERZ.
 
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