Abb. 102. Apollotempel von Selinunt (Zu Seite 158)
wohl aus älteren Tuffen sich gebildet hatte, wälzte sich an jenem verhängnisvollen
Augusttage des Jahres 79 vom tollgewordenen Berge herab auf die unglückliche
Stadt, und diese heißen Breimassen, welche die Stadt des Herkules wie ein
Leichentuch umhüllt haben, wurden im Verlaufe der Zeit so sehr zu harter Stein-
masse umgewandelt, daß man zu den wichtigeren wiederausgegrabenen Teilen
Herculaneums nur durch unterirdische Gänge Zutritt finden kann. Daß Lava-
massen über sein Weichbild gestossen seien, das ist ein oft wiederholter Irrtum,
wenn auch in späteren Jahrhunderten allerdings mehrfach glutflüssiges Gestein sich
über das Grab Herculaneums ergossen hat. So kommt es, daß die im Verhältnis
zu denjenigen Pompejis nur geringen Ausgrabungen hier mit großen Schwierig-
keiten und noch größeren Kosten zu kämpfen hatten. Außer einigen wenigen Häuser-
ruinen, die das Sonnenlicht nach vielen hundert Jahren nun wieder bescheint, ist
eigentlich nur das Theater zugänglich gemacht worden, zu dem man auf einer
langen und dunklen Treppe hinabsteigt. Für denjenigen, der nicht gerade be-
sondere Altertumsstudien machen will, hat letzteres nicht viel Zweck, denn es ist
schwer, sich bei der spärlichen Fackelbeleuchtung ein gutes Bild von diesem römischen
Schauspielhause zu machen, das neunzehn in sechs Abteilungen zerlegte Sitzreihen
und die der Orchestra zunächst gelegenen Stufenränge für die Bisellien der
Respektspersonen der Stadt zeigt. 3000 Zuschauer sollen Platz darin gefunden
haben. Auf der Suche nach Altertümern ließ 1719 ein österreichischer General,
Fürst Elbeuf, einen Schacht graben, der in der Tiefe von 27 m hinter der Bühne
des Theaters mündete. Auf solche Weise hat Herculaneums Auferstehung be-
gonnen, die allerdings, so wenig umfangreich die Ausschachtungsarbeiten bislang
auch gewesen sind, sowohl die darauf verwendete Mühe, als auch die Kosten fast
immer mit der Hergabe kostbarer Kunstgegenstände reichlich vergolten hat. Letztere
sind meist im Museum in Neapel geborgen. Es waren also nicht „trinkbare
Quellen", um welche man die Erde anflehte, die Ursache der Wiederentdeckung
Herculaneums, und die schönen Verse, zu welchen dieser Vorgang Schiller be-
geistert hat, stimmen nicht recht. Das italienische Wort „P0220", zugleich einen
Brunnen und einen Schacht bedeutend, hat wohl die Veranlassung zu der irr-
tümlichen Auffassung des großen Dichters gegeben.
Über einen mächtigen Lavastrom aus dem Jahre 1794 zieht sich die Bahn-
linie nach Torre del Greco hin. Der in der Gegenwart an 40000 Einwohner
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