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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0009
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plaudert? Verbrieft ist: Er starb in einem Gasthaus. Ein Lotte-
rieagent steht ihm in der letzten Stunde bei. Geldsorgen, Mei-
nungshändel und Schwermut verfinsterten seine letzten Le-
bensjahre. Der Obduktionsbericht nennt als Todesursache
Brustwassersucht.

Als er den Brief schreibt hat er eine passable Stellung wie
selten. Er ist Gouvernementssekretär unter einem preußischen
General. Ein Amt, das zu einem, der Krieg und Hierarchien
haßt, nicht passen will, dessen Einkünfte ihm aber den Ankauf
einer Bibliothek erlauben, ein Luxus, der ihm in anderen Zeiten
versagt bleibt. Schon trägt er sich mit dem Gedanken, die beruf-
liche Mesalliance aufzugeben. Er will frei, von niemand abhän-
gig sein, vielleicht auf Reisen gehen - nach Italien, nach Grie-
chenland oder sonstwohin... Es ist Krieg: Pfahl im Fleisch der
Völker; Denkzeichen einer umfassenden Hinfälligkeit - der
Moral, der guten Sitten, mit einem Wort: der Vernunft.

Der Brief ist mehr als nur eine persönliche Botschaft. Lessing
deutet die eigene Krankheit als Krise der Selbsterkenntnis. Eine
Krise, deren Fieber ihn gereinigt hat und zugleich an jene End-
lichkeit gemahnt, die den schöpferischen Impuls nicht nur
hemmt, sondern auch beflügelt. Als „Denkzeichen" führt sie
zur Reflexion auf das eigene Können. Und Unruhe spricht aus
dem scherzhaften Vergleich mit dem Riesenwerk des antiken
Autors. Eine charakteristische Unruhe. Immerzu motiviert sie
ihn, gleichzeitig an den mannigfaltigsten schriftstellerischen
Projekten zu arbeiten, seine Interessen und Lektüren weit, weit
über nahe und ferne Felder des Wissens zu streuen.

Zur Zeit des Briefes bringt er die ersten Entwürfe zur Minna
zu Papier und bereitet den Laokoon vor. Hinter ihm liegen
zahlreiche Übersetzungen aus verschiedenen europäischen
Sprachen, er hat Pläne zu einem Deutschen Wörterbuch in der
Schublade, beliefert als Kritiker und Kommentator mit Aus-
dauer eigene und fremde Zeitungen; erste Sammlungen mit Ge-
dichten, Fabeln, Rettungen, Lustspielen und das bürgerliche
Trauerspiel Miß Sara Sampson sind bereits erschienen. Und
doch beruft er sich im Brief an den Freund nur auf ein einziges
Drama.

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