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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0012
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I. Einübung in die Tradition

Nichts Neues unter der Sonne

1729, in Lessings Geburtsjahr, schrieb der Leipziger Professor
Gottsched am Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deut-
schen (1730). Ein Buch, das die Absicht hatte, den kahlen Ratio-
nalismus mit der schön gelockten Poesie zu verkuppeln. Der
Professor der Poesie und Beredsamkeit konnte nicht wissen,
daß der Pastorensohn, der da ein halbe Tagereise entfernt im
kursächsischen Kamerz das Licht der Welt erblickte, aus dem
Wörtchen „critisch" eine neue Disziplin machen würde, einen
Denksport, in dem siegt, wer am besten mit Kombinations-
kraft, Scharfsinn, Wortwitz und Ironie umgehen kann. Eine
anstrengende, manchmal unfaire Sportart, in der nicht selten die
Sache, um die gestritten wird, aus dem Blick der Kämpfer gerät
und zuvörderst die Anmut der geistigen Pantomime zählt.

Zehn Jahre nach Gottscheds Versuch erscheint in Zürich
Breitingers Critische Dichtkunst (1740), ein Buch von anderem
Schlag, da in Sachen Dichtung dem innovatorischen Geist der
Phantasie mehr zugetan als dem peremptorischen Verstand. Die
Poesie erschien dem Schweizer wie ein fein dekoriertes, wun-
derliches Fest und nicht - wie dem sächsischen Professor - wie
eine planbare, trockene Schulstunde. Damit war der Streit
eröffnet, in dem auf Jahrzehnte hinaus ein jeder Stellung zu
nehmen hatte. Der Knabe Gotthold E. Lessing hatte damit
noch keine Not; um diese Zeit war er zwölf Jahre alt und wurde
gerade in die Fürstenschule St. Afra zu Meißen eingewiesen.
Doch dem Streit über die Frage, welchem Vermögen Vorrang
gebührt, dem Verstand oder der in Bildern schwelgenden Emp-
findung, konnte auch er, kaum herangewachsen, nicht auswei-
chen. Es war im Grunde der uralte Streit zwischen Philosophie
und Poesie, der im 18. Jahrhundert unter anderen Vorzeichen

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