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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0130
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tik, daß sie hier nicht verschwiegen werden darf: „Wer mich
dieses bereden könnte", schreibt er über die angebliche Bekeh-
rung, „der hätte mich zugleich beredet, allen Untersuchungen
der Wahrheit von nun an zu entsagen. Denn wozu diese frucht-
losen Untersuchungen, wenn sich über die Vorurteile unserer
ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt?
wenn diese nie auszurotten, sondern höchstens nur in eine kür-
zere oder längere Flucht zu bringen sind, aus welcher sie wie-
derum auf uns zurück stürzen, eben wenn uns ein andrer Feind
die Waffen entrissen oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir
uns ehedem gegen sie bedienten? Nein, nein; einen so grausa-
men Spott treibet der Schöpfer mit uns nicht. Wer daher in
Bestreitung aller Arten von Vorurteilen niemals schüchtern,
niemals laß zu werden wünschet, der besiege ja dieses Vorurteil
zuerst, daß die Eindrücke unserer Kindheit nicht zu vernichten
wären. Die Begriffe, die uns von Wahrheit und Unwahrheit in
unserer Kindheit beigebracht werden, sind geradezu die aller-
flachsten, die sich am allerleichtesten durch selbst erworbene
Begriffe auf ewig überstreichen lassen: und diejenigen, bei de-
nen sie in einem späteren Alter wieder zum Vorschein kommen,
legen dadurch wider sich selbst das Zeugnis ab, daß die Begriffe,
unter welchen sie jene begraben wollen, noch flacher, noch
seichter, noch weniger ihr Eigentum gewesen, als die Begriffe
ihrer Kindheit."

Die Geschichte des Berengarius wird Lessing zum Gleichnis
für den lebenslangen Kampf der Wahrheitssucher gegen den
Irrtum, oder anders gesagt: für den harten Weg zur Mündig-
keit. Haben die falschen Begriffe der Vorurteile doch ihre not-
wendigen Ursachen in der „ersten Erziehung". Mit der Kind-
heit die Irrtümer und Vorurteile zu verlassen, ist aber keine
bloße, gleichsam natürliche Folge des Erwachsenwerdens, wie
das Schreckbild des möglichen Rückfalls zeigt. Ein fast ver-
zweifeltes Pathos spricht aus der doppelten Verneinung, die
Lessing dem deterministischen Kleinmut entgegenhält, es nütze
)a doch nichts, die Erziehung sei stärker als alle Aufklärung.
Seine Aufforderung, dieses deterministische Vorurteil als erstes
der falschen Idole zu stürzen, erklärt noch einmal von anderer

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