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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0173
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sich nicht gegen Religion als Fürsorge für den andern, sondern
gegen die pseudowissenschaftliche Verdrängung dieses prakti-
schen Sinns. Vehement verteidigt er daher die wichtigste In-
stanz der Aufklärungskultur, die Vernunft, gegen ihre falschen
Bewunderer in der Theologie. Zwischen Vernunft und Religion
fand er keinen Gegensatz, sondern mißverstandene Anbiederei
oder dummdreiste Feindschaft. Umso notwendiger erschien
ihm ihre kritische Unterscheidung. Was er dazu zu sagen hatte,
ist nicht nur historisch interessant. Was er vorfand, das war ein
längst angekränkeltes, zerbröckelndes theologisches Weltbild,
an dessen Destabilisierung die Popularisierung der Vernunft,
die Fortschritte in den Naturwissenschaften und nicht zuletzt
der naturrechtlich-politische Diskurs der Moderne beteiligt wa-
ren. Um die pragmatischen Leitideen der Religion dennoch be-
wahren zu können, bedurfte es daher einer Reorganisation ihrer
Grundlagen, ohne die zunehmende Komplexität zu unterschla-
gen und ohne das emanzipatorische Vernunftdenken preiszuge-
ben.

Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Die Vernunft gerät
in Bedrängnis. Sie wird offen im Namen der Religion und des
Obskurantismus bekämpft. Spektakulär sind die reaktionären
Bestrebungen der positiven Religionen in den militanten Bewe-
gungen der Reislamisierung, Rechristianisierung und Rejudai-
sierung. Aber der Angriff geht nicht nur vom religiösen Funda-
mentalismus aus. Er hat seine ideologischen Parteigänger auch
in den philosophischen Seminaren, in denen die Moderne als
Inkarnation einer bösen Vernunft zum Anathema wird. Umso
aktueller erscheint Lessings Versuch, auf unkonventionelle
Weise zwischen Religion und Vernunft zu vermitteln.

Selbstbegrenzung der Vernunft

Im Nachlaßfragment über eine Prophezeiung des Cardanus
hat Lessing die „große Veränderung" bejaht, die „mit der
christlichen Religion geschehen ist, und geschieht". Das
Fragment stammt aus der Zeit, die ihn mitten im Streit mit

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