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für diese Kritik ist ein Dennoch, da Bell mit einem quasi-religiösen, inte-
grativ wirkenden Kultwert gegen den dissoziierenden Gebrauchs- und Aus-
stellungswert der Oberflächenkultur zu Felde zieht und mit dem Ruf nach
moral guidance ein liberalistisches Credo kohärenzstiftender Sinnfindung
beschwört. Andererseits soll »Kultur« heute - folgt man der Diagnose von
Panajotis Kondylis in Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen
(1991) - für eine massendemokratische Erscheinung stehen, deren Ega-
litätsprinzip sich über die traditionelle Unterscheidung zwischen >Hoch<-
und Populärkultur hinwegsetzt, um die Wertdifferenzen zwischen beiden
Sphären in einem osmotischen Austauschprozeß auszugleichen.

Zirkulation, Rekursivität, Fluktuation, Dissipation usf. lauten die neu-
en Begriffsgitter, durch die wie durch alchemisch aktive Filter das moderne,
synkretistisch fortwuchernde Gespinst der Kulturen hindurch muß, damit
der sozial- und kulturwissenschaftliche Blick in den Stand gesetzt wird,
lesbare Muster unterscheiden zu können.2 »Kultur«, zum formellen Ar-
beitsbegriff der Kultur-Wissenschaften transformiert, kommt ohne Geist-
substanz aus. Die Entscheidung ist pragmatisch und wissenschaftsrational.
Denn der formelle Begriff erleichtert und stärkt die Ermittlung positiven
Wissens, und es stellt sich die Frage, ob das auf Kosten jener Reflexion ge-
schieht, für die der Geist-Begriff steht. Von Berlin bis Passau hat die Kul-
turwissenschaft ein eigens so genanntes Berufsstudium in die akademische
Welt gesetzt. Etwas ähnliches von der Geisteswissenschaft zu verlangen,
würde nur Spott verdienen, da diese Bezeichnung seit Diltheys Tagen als
Sammelcode für jene Fakultäten in Gebrauch ist, die sich nicht der Natur-
erkenntnis, sondern - wie es bei dem Wissenschaftsphilosophen heißt — der
Konstruktion der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit« widmen.3
Hier werden Wirklichkeit und Geist in ein Verhältnis gesetzt, das mehr
umfaßt als das in materielle und ideelle Güter aufgeteilte Reich der Kul-
tur. Was zu Diltheys Zeiten Konstruktion des Vergangenen hieß, stand im
Dienst einer Krisentherapie, die von der autonomiestärkenden Kraft der
nationalen Bildungs-Erlebnisse noch überzeugt sein mochte. Den supra-
und transnationalen Kräften, die heute das klassische Modell des National-
staates unterwandern und delegitimieren, entspricht auf ästhetischer Ebene
die Kreolisierung der Kulturen.

Um der Unterscheidung, ja den Widersprüchen zwischen Kultur- und
Geisteswissenschaften auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, bei dem
nachzuschlagen, dessen Name zum Inbegriff für das geworden ist, was
heute zur Disposition steht. Überdies zieht dieser Name sich wie ein ro-
ter Faden sogar durch die Diskurse der transatlantischen Grundlagentexte
der Literary & Cultural Studies - von Wellek-Warren bis Clifford Geertz
und Victor Turner, jenen Ideengebern für eine ethnologisch inspirierte Poe-

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