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Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften
und die Klassische Tradition

. nam et omnis disciplina memoria constat.
Quintilian

Die Altertumsforschung der letzten Jahre wendet sich mit zunehmender
Intensität den Perspektiven und Interessen zu, die der Rezeption, ja >Kon-
struktion< der antiken Literatur und Kultur zugrunde liegen.' Meine Un-
tersuchung sucht diesen Trend in exemplarischer Weise und unter inter-
disziplinären Gesichtspunkten zu beleuchten. Ins Licht zu rücken sind
Gewinn und Verlust, aber auch mögliche Alternativen. Die Mehrzahl der
ausgewählten Publikationen bezieht sich auf antike Reichtümer und deren
kontextuellen Funktionswandel, wenige auf die Praktiken kollektiven Er-
innerns in außereuropäischen Kulturen. Just die zuletztgenannten Studien
sind es aber, die den Blick auf mögliche Grenzüberschreitungen lenken und
zugleich die »große Tradition« der klassischen Normen relativieren.

»Thepast isaforeign country«

Wie zahlreiche andere begriffliche Münzen im okzidentalen Gedanken-
kommerz zeigen »Erinnerung« und »Gedächtnis« — reminiscentia et memo-
ria - unterm Vergrößerungsglas der historischen Semasiologie Spuren älte-
ster Prägung. Es ist nicht überraschend, daß früh schon das Gedächtnis
als eine Erfindung (inventid) des anthropologischen Diskurses und als ein
von der Natur dem tierischen Organismus eingepflanztes Orientierungs-
vermögen verstanden worden ist. Der Begriff- nicht nur der deutschspra-
chige - evoziert beides: das Denken (Subjekt) und das Gedachte (Objekt).
»Schon unsere Sprache gibt dem Gedächtnis«, schrieb Hegel, »die hohe
Stellung der unmittelbaren Verwandtschaft mit dem Gedanken.«2

Aristoteles nannte »Gedächtnis« (mnime) ein elementares, naturwüch-
siges Merkvermögen, »Erinnerung« (anämnesis) eine allein dem mensch-
lichen Bewußtsein eigene, den Zeitsinn einschließende kognitive Repro-
duktions- und Retentionskraft. Beide durch gemeinsame Grenzen vereinte
Konzeptionen, über deren intrikates Verhältnis noch heute - in Psycho-
und Neuro-Wissenschaften unter empirischen Vorzeichen - gerätselt wird,3
unterscheiden sich indessen von einer älteren, in mythologischen, poeti-

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