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Harth, Dietrich
Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften — Dresden, München, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.2941#0052
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tics ofCulture; und die Literaturwissenschaften Rußlands, lese ich zu mei-
ner Verwunderung in einem Bericht über deren aktuellen Stand, sollen
sich von der Dilthey-Zeit überhaupt noch nicht losgesagt haben.5 Dilthey
selbst verdankte übrigens die Bezeichnung »Geisteswissenschaft«, die gern
als eine idealistische Wortschöpfung angesehen wird, der Übersetzung der
englischen Begriffsfügung »moral science« aus John Stuart Mills System of
Logic von 1843; eine Übersetzung, die sich zum Original noch unentschie-
den verhielt, da sie den Ausdruck »Geisteswissenschaften« der wörtlichen
Übertragung »moralische Wissenschaften« als Explicans — wie zu vermuten
ist — hinzugefügt hat.

Der Fall erscheint mit charakteristisch für jene Translationen im grenz-
überschreitenden Kommerz der Wissenschaften, die sich in den gegenwärti-
gen Diskussionen über das Woher und Wohin der historisch-philologischen
Wissenschaften überschlagen. Auch hier gilt indes, was jede Übersetzung
auszeichnet: Sie verschiebt die Bedeutungen. Wenn hier und jetzt von
»Kulturwissenschaft« die Rede ist, so mag dahinter — sieht man von den
volkskundlichen und DDR-Varianten einmal ab - das angloamerikanische
Paradigma der »Cultural Studies« zu ahnen sein. Dennoch läßt sich das
eine nicht ins andere übersetzen. Die Differenz liegt sicher nicht nur in
der Beziehung des einen auf eine Vielfalt von Wissenschaften, des andern
auf das, was in den heimischen Philologien unter dem Titel »Landeskun-
de« versammelt ist. Denn in der angloamerikanischen Wissenschaftskultur
stehen die »Cultural Studies« längst für autonome sozialwissenschaftlich-
kulturanthropologische Forschungs- und Studienfelder, die allein mit der
Elle philologisch-historischer Konventionen nicht auszumessen sind.7

Wünschenswert wäre sicher eine Konfrontation zwischen beiden Pa-
radigmen, zumal das geistesgeschichdiche, im deutschen Wissenschaftsbe-
trieb verwaltete Nebengebäude der Literaturwissenschaften in Auflösung
begriffen ist. Der Effizienzdruck der politischen Instanzen, der Verfall eines
einst gesicherten Objektbereichs (Kanon) und die Tatsache, daß beruflich
nur noch 3% der Magisterabsolventen philologischer Disziplinen im Bil-
dungssektor unterkommen, sind - um nur einige Ursachen zu erwähnen -
der Grund dafür, daß die verschämte Frage »Wozu Literaturwissenschaft?«
unverdrossen dauernd neu aufgelegt wird.8 Bildung, einst mit einer »Kul-
tur« identisch, die ins offene Meer der Selbstbestimmung münden sollte,
liegt in Akademiens Landschaften in einem ausgetrockneten Bett. Der
Fluß ist umgelenkt worden: in Kanäle speziellen Kompetenzerwerbs, zwi-
schen denen es kaum Verbindungen gibt. So scheint es denn an der Zeit,
ohne falsche Pietät gegenüber konventionellen Wertstandards neue Per-
spektiven, Ausbildungsziele und Berufsstudiengänge zu entwickeln, die
»Kultur« - in der Vergangenheit meist nur in der engen Bedeutung von

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