das Gebiet soziohistorischer Forschungen ab. Zum andern verweist er auf
die gesellschaftlichen Umwälzungen seit der Französischen Revolution, um
mit Nachdruck hinzuzufügen: »Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der
Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervor-
gebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vor-
handen sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Da-
her wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber
denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens
vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen« (I, S. 4).
An dieser Stelle heißt verkürzt »Wissenschaften der Gesellschaft«, was
Dilthey wenige Seiten später programmatisch unter dem Begriff »Geistes-
wissenschaften« zusammenführt. Er zieht diese Bezeichnung anderen vor,
weil die damals gebräuchlichen — »Gesellschaftswissenschaften (Soziolo-
gie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften« (I, S. 6) - ihm zu
eng erscheinen. Sie erfassen nicht jene komplexen soziohistorischen Mo-
difikationen, die er mit anthropologischer Emphase auf die »psycho-phy-
sische Totalität der Menschennatur« bezieht. Das »moderne Leben« ist,
so versichert er uns, anders als das vorrevolutionäre beschaffen, nämlich
von weitreichenden, Politik, Gesellschaft, Kunst und Denken erfassenden
»Umwälzungen« stigmatisiert, deren Erkenntnis zur Überlebensfrage ge-
worden ist.
Es sind mithin lebenspraktische Motive, die ihn veranlassen, den Wis-
senschaften, die sich der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit«
widmen, einen einheitlichen Zusammenhang zu geben, sie als »ein Gan-
zes« zu konzipieren, für dessen intellektuellen Führungsanspruch schließ-
lich der Sammelcode »Geisteswissenschaften« einsteht (I, S. 4). In ihrer
idealen >Ganzheit< bilden die unter diesem Dach versammelten Einzeldis-
ziplinen daher nicht nur ein autonomes und zugleich wissenschaftskriti-
sches Komplement zur Einheit der Naturwissenschaften. Sie antworten
vielmehr auch auf die Partikularisierung der lebensweltlichen Erfahrungen
in der modernen Zivilisation. Kurz, sie sind in der von Dilthey konzipier-
ten erlebnis- bzw. erfahrungsstimulierenden Funktion das Komplement zur
kulturellen Desintegration der modernen Gesellschaft unter der Vorherr-
schaft des Kalküls; mit einem Wort: Krisenwissenschaften!
Die hier naheliegende Frage, welche Bedeutung der Philosoph dem
Terminus »Kultur« in seinem Plan zumißt, ist auf der Ebene der einzel-
wissenschaftlichen Organisation nicht eindeutig zu beantworten. Das ist
umso bemerkenswerter, da dieser Begriff zu seiner Zeit bereits eine ähn-
liche Konjunktur erfuhr wie an unserem Fin de siecle. Und auch damals
waren es Anthropologie und Ethnologie, deren besondere katalysatorische
Effekte Dilthey durchaus anerkannte, die so etwas wie die Tendenz zu
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die gesellschaftlichen Umwälzungen seit der Französischen Revolution, um
mit Nachdruck hinzuzufügen: »Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der
Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervor-
gebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vor-
handen sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Da-
her wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber
denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens
vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen« (I, S. 4).
An dieser Stelle heißt verkürzt »Wissenschaften der Gesellschaft«, was
Dilthey wenige Seiten später programmatisch unter dem Begriff »Geistes-
wissenschaften« zusammenführt. Er zieht diese Bezeichnung anderen vor,
weil die damals gebräuchlichen — »Gesellschaftswissenschaften (Soziolo-
gie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften« (I, S. 6) - ihm zu
eng erscheinen. Sie erfassen nicht jene komplexen soziohistorischen Mo-
difikationen, die er mit anthropologischer Emphase auf die »psycho-phy-
sische Totalität der Menschennatur« bezieht. Das »moderne Leben« ist,
so versichert er uns, anders als das vorrevolutionäre beschaffen, nämlich
von weitreichenden, Politik, Gesellschaft, Kunst und Denken erfassenden
»Umwälzungen« stigmatisiert, deren Erkenntnis zur Überlebensfrage ge-
worden ist.
Es sind mithin lebenspraktische Motive, die ihn veranlassen, den Wis-
senschaften, die sich der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit«
widmen, einen einheitlichen Zusammenhang zu geben, sie als »ein Gan-
zes« zu konzipieren, für dessen intellektuellen Führungsanspruch schließ-
lich der Sammelcode »Geisteswissenschaften« einsteht (I, S. 4). In ihrer
idealen >Ganzheit< bilden die unter diesem Dach versammelten Einzeldis-
ziplinen daher nicht nur ein autonomes und zugleich wissenschaftskriti-
sches Komplement zur Einheit der Naturwissenschaften. Sie antworten
vielmehr auch auf die Partikularisierung der lebensweltlichen Erfahrungen
in der modernen Zivilisation. Kurz, sie sind in der von Dilthey konzipier-
ten erlebnis- bzw. erfahrungsstimulierenden Funktion das Komplement zur
kulturellen Desintegration der modernen Gesellschaft unter der Vorherr-
schaft des Kalküls; mit einem Wort: Krisenwissenschaften!
Die hier naheliegende Frage, welche Bedeutung der Philosoph dem
Terminus »Kultur« in seinem Plan zumißt, ist auf der Ebene der einzel-
wissenschaftlichen Organisation nicht eindeutig zu beantworten. Das ist
umso bemerkenswerter, da dieser Begriff zu seiner Zeit bereits eine ähn-
liche Konjunktur erfuhr wie an unserem Fin de siecle. Und auch damals
waren es Anthropologie und Ethnologie, deren besondere katalysatorische
Effekte Dilthey durchaus anerkannte, die so etwas wie die Tendenz zu
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