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hat, um ein Beispiel für den damaligen Enthusiasmus der Vernunftsgläubi-
gen zu nennen, der von Herder niederrezensierte Historiker August Ludwig
Schlözer der universalhistorischen Vernunft die antiquierte Aufgabe zuge-
sprochen, zu zeigen, »daß nichts neues mehr unter der Sonne geschehe«.3
Dieser Optimismus berief sich auf die von den Schulphilosophen gern be-
hauptete Analogie zwischen einer (metaphysischen) Vernunft, die sich in
der Weltordnung manifestiert und einer im Wissenschaftler bzw. Philoso-
phen verkörperten (diesseitigen) Vernunft. Die Metapher vom schöpferi-
schen Historiker, der dem System zuliebe alle Unterschiede zwischen den
Völkern ausklammert, mag verdeutlichen, welche Gewalt die Konzeption
bereit war, den partikularen Gehalten der Lebenswelt anzutun, um an En-
de dann doch, als »Dienerin der Religion«, in dem Stand zu verharren,
gegen den die aufgeklärte Vernunft rebellieren wollte.

Der Zweifel an der Verfügungsmacht wissenschaftlicher Rationalität
hat längst die Aktualität auf seiner Seite. Auch in der geschichtswissen-
schaftlichen Grundlagendiskussion meldet er sich wieder mit der Frage, ob
der historische Diskurs überhaupt die Rampe des Expertengesprächs über-
winden könne, um für lebenspraktische Fragen nützlich zu werden. Wenn
hier nun zwei eminente Texte der Wssenschaftskritik erneut in den Fo-
kus der Interpretation rücken, so soll damit nicht behauptet werden, daß
sich aus ihnen für die Lösung der qualitativ andersartigen Probleme ge-
genwärtiger Geschichtsforschung und -darstellung etwas gewinnen ließe.
Wohl erscheinen mir aber die Texte Herders und Nietzsches als eindrucks-
volle Beispiele eines nonkonformistischen Diskurses, wie ihn nur wissen-
schaftliche Außenseiter zu schreiben vermögen. Und ich werde versuchen,
dieser Wertschätzung durch die Analyse der Stil- und Argumentationsebe-
nen auf den Grund zu gehen. Aber im Zentrum soll doch vorab ein syste-
matisches und zugleich historisches Problem stehen, das ich zunächst nur
thesenhaft und daher relativ allgemein umschreiben möchte, um es nach
der vergleichenden Lektüre der Texte wieder aufzunehmen. Es betrifft den
von Daniel Bell - übrigens mit einem Blick auf Nietzsche - diagnostizier-
ten Gegensatz zwischen moderner Wissenschaft und Kultur.5

Historisch gesehen deckte der Kulturbegriff nicht nur die Formen ex-
pressiver Symbolisierung in Künsten und künstlerischen Medien ab. Von
Herder bis Nietzsche bewahrte der Begriff nämlich etwas von der alten le-
benspraktischen Bedeutung der Veredelung, Reife und Nutzung natürlich
gegebener Ressourcen. Kultur schloß Natur nicht aus, sondern bezeichne-
te deren vom Menschen bearbeitete, nicht ausgebeutete Form, mit einem
Wort: zweite Natut. Wo die Kultur diese ihre Genese aus dem ihr schein-
bar Entgegengesetzten verleugnete, da traf sie seit Rousseau das Verdikt
des Künstlichen und Lebensfremden. Diese Einsicht emphatisch auszu-

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