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stanten zurechtgestutzt.3 Der Zuhörer aber erinnert sich des Erzählten mit-
samt der besonderen Umstände: Ort, Zeit, Publikum, Gestik des Erzählers
usw. Schreibt er später die Geschichte auf, so wird er den Erzähler zitieren
und in der Regel zugleich erfindungsreich die Lücken schließen, die dieser
oder das eigene schlechte Gedächtnis verschuldet hat. Ob er die Situation
des Erzählens und die Haltung des Erzählers beschreibt, das ist eine Frage
der Zweckmäßigkeit, der Schreiberintention oder auch der institutionali-
sierten Normen, denen er folgen will bzw. muß. Auf jeden Fall wird der
Schreiber im Akt der erinnernden Niederschrift zu einem Doppelgänger
des Erzählers und Berichterstatters, der seinem Urbild allerdings an Ähn-
lichkeit so wenig zu entsprechen vermag wie die Zeichnung des Illustrators
der im Epos erzählten Ankunft des Odysseus nach langem Irren im eige-
nen Heim. Die Erinnerung ist zu undiszipliniert, um sich sklavisch an das
halten zu wollen, was im Augenblick des Geschehens wirklich vorgefallen
ist. Im Medium des Erzählens entfaltet sie ihre eigentümlich selektiven,
evaluativen und kommunikativen Kräfte, Kräfte, denen die Faktizität des
Stofflichen nicht gewachsen ist.

Es gibt eine analoge Beziehung zwischen Erinnern und Erzählen. Denn
jede schriftlich verfaßte Erzählung schießt in dem Maß über das Erzählte
hinaus, mit dem der Leseakt sie an beliebigen Stellen ins Netz der Intertex-
te, das dem literarischen Gedächtnis entspricht, einfädelt. Diesem Textua-
litätseffekt öffnen sich die folgenden Skizzen. Sie suchen nach dem Alten
im Neuen, nach den verdeckten und offenen Erblasten der Rhetorik und
der mit dieser verwandten Poetik im Feld der Historiographie.*

Mischtechnik: Ranke und Dublin

Die klassische Rhetorik als das Organon der zugleich erzählenden und ar-
gumentierenden Prosa hat schon immer die Abhängigkeit des Handelns
von Umständen, Meinungen, kontingenten Ereignissen und unberechen-
baren Widerfahrnissen bedacht. Was die Historiker erzählen, das ist gewis-
sermaßen der Erfahrungsbeweis für die Bedürftigkeit der Handelnden, im
Rede-Agon das Rechte zu ermitteln. Die Geltung des Prinzips vom unzu-
reichenden Grund erstreckt sich daher gleichermaßen auf Historiographie
und Rhetorik. Was geschehen ist {res gestae), galt der Schulrhetorik von
jeher als Demonstrationsmaterial für die Fülle und Unberechenbarkeit des
Handelns. Erst im Verein mit dem argumentierenden Für und Wider der
forensischen Befragung werden aus Ereignissen Fälle, an denen die Reich-
weite der geltenden Regeln, Normen, Gesetze zu messen und ggfs. zu kor-

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