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N‘ 234.

Dienſtag, 5. October




durch



fi. 57 frı Die Landwirthſchaftlichen


Die Leiden von Bosnien.

Der A. A. 3. liegen abermals zahlreiche
Briefe und Berichie aus dem türkiſchen
Irland, aus Bosnien und der Herzegowina
vor, neue Klagen über die alte Noth, glaub:
würdige Schilderungen der hrutalen Miß-
handluͤngen, welche die chriſtliche Bevölke-
rung erduldet, ſtatiſtiſche Details über die
Groͤße der Auswanderung und — dunkle
Angaͤben über die Bildung von Guerilla-
banden im Gebirge, ohne daß es bis jetzt
den türkiſchen Truppen gelungen wäre, der-
ſelben Herr zu werden. Noch iſt der Grimm
über die paſſive Klage nicht hinausgegangen,
noch hofft und wariet die Rajahbevoͤlkerung


Selbſthuͤlfe, noch flüſtert ſie ſich nur leiſe
zu daß ſie ja an Zahl und Stärke die
lürkiſchen Machthaber weit überrage, und
keineswegs ohne mächtige und eifrige
Bundesgenoſſen ſei. Bricht ſich über kurz
oder lang dieſe Ueberzeugung Bahn und
findet ſie einen Helden zum Führer (woran
es in Bosnien fo wenig gebrechen wird als
im Anfang dieſes Jahrhunderts in Serbien),
ſo kann man gewiß fein, daß nichts an-
deres den Waffenſturm ſtillen wird als die
Gewähr freier Selbſtverwaltung und, wenn
nicht formeller, doch wenigſtens factiſcher
Selbſtſtändigkeit. Scheint es doch faſt, als
ob die Gleichgültigkeit, mit welcher man
von einer Seite den Gräuelſeenen in Bos-
nien zuſieht, nicht ohne Abſicht fei, und man
eben zuwaͤrte, bis das Aeußerſte geſchieht,
um dann mit größerem Recht auch ſeiner-
ſeits gleich die höchſten Forderungen ſtellen
zu können. Und warum will man gerade
der bosniſchen Bevölkerung zumuthen nicht
lüſtern zu werden nach den Früchten, welche
das gleiche Streben bei Nachbarvölkern ge:
tragen? Es bedarf nur der Ausvdauer, und
dieje wird leider durch die Verzweiflung
wohl bald geſchaffen werden. Wie Bosnien
jetzt, ſo litt vor einem halben Jahrhundert
Serbien. Auf welche Weiſe diefes ſich von
ſeinen Leiden befreite, iſt auch jenſeiis der
Drina noch nicht vergeſſen, ebenfowenig alg
die neuerliche formelle Anerkennung der
Unabhängigkeit Montenegro's ohne Ruck-
wirkung auf die Zuſtände in der noͤrdlichen
Türkei bleiben wird. Allerdings ändert dies
vorläufig wenig an den Verhältniffen Men-
tenegros; faeliſch war die Unabhängigkeit
ſchon längſt vorhanden. Was aber jenen
Schuß aubelangt, deſſen alle Kleinſtaaten
bedürfen, ſo wird ihn Montenegro in der
Zukunft kaum von einer andern Großmacht
anſprechen alg bisber. Und dennoch, bei
aller ſcheinbaren Unverletzlichkeit der Per-
hältniſſe, bleibt die Tragweite des Schrittes
gar gewaltig. Als unabhängiger Staat
compremittirt Montenegro niemand durch
ſeine Handlungen, es kaͤnn nach Gutdünken
Freundſchaften und Bündniffe fchließen, und
auch ſein Gebiet nach der Seefeite hin ver-
größern, ohne daß die Verantwortlichkeit
auf die Schutzmacht fällt — mit einem
Wort, es kann und wird jetzt als unab-
hängiger Staat die Intereſſen ſeines Pro-
tectors beſſer wahren, als dies früher der

Fall war, wo man hinter jedem Schritt
eine Action des letztern vermuthete. Daraus
erklärt ſich der Widerwille Englands dem
Beiſpiel einer andern Großmacht zu folgen,
und auch ſeinerſeits die Unabhaͤngigkeit des
kleinen, aber kräftigen Bergſtaates anzuer-
kennen. Welche Stellung aber Montenegro
in den Kämpfen ſeiner Stamm- und Glaͤu—
bensgenoſſen, der flaviſch-chriſtlichen Bevöl-
kerung Bosniens, einnehmen wird, läßt ſich
jetzt ſchon ahnen, wenn auch noch nicht
deutlich auseinander ſetzen.

Der Ueberblick der Verhältniſſe zeigt alſo
auf der einen Seite namenloſe Bedrückun-
gen eines glaubensverwandten Volkes, Hohn
zur Graufamkeit, Schmach zur Schmach ege-
ſellt; auf der andern Seite die Keime zu
kräftigen ſtaatlichen Organismen und An-
regungen zu einem neuen politiſchen Leben.
Hier ein klares Ziel, dort die bittere Noth⸗—
wendigkeit mit der Gegenwart zu brechen,
und bei der Unſicherheit des Lebens und
Eigenthums Luſt zu politiſchen Veränderun-
gen. Man iſt von der Unerträglichkeit der
deſtehenden Verhältniſſe überzeugt, und er-
wägi bereits die Moͤglichkeit der Abhülfe.
„So lange, ſchreibt man vom Schauplatz
der Begedenheiten, wir Bosnier keine ſelbſt-
ſtändigẽ Adminiſtration erhalten, werden
wir uns auch den Verfolgungen und Miß-
handlungen nicht entziehen! Wie können wir
aber dieſelben noch länger vulden, wenn
wir bedenken, daß wir eine Million Köpfe
zählen, die Zahl unſerer Unterdrücker da-
zegen auf einige tauſend Familien ſich be-
ſchtänkt.“ Was thut nun das Abendland
im Angeſicht dieſer Thatſachen und drohen-
den Verwicklungen? ;

Die Berichte, welde der genannten Zei-
tung vorliegen, rufen mit geſteigerter Hef-
tigfeit die Vermittlung des europäiſchen
Weſtens an. Doch denle man dabei nicht
ſofort an eine verſuchte Wiederbelebung ro-
mantiſchen Sinnes durch Kreuzzüge; auch
der Furcht, es werden Armeen und Ka-
nonen verlangt, kann man ſich noch bil-
lig entſchlagen. Keine Mittelmeer- Flotte
braucht den Anker zu heben, noch dex Be-
fehlshaber der Dardanellen die Schlöſſer
mit Proviant und Munition zu verſeben.
Um was es ſich handelt, die Bermittlung/
welche ſo ſehnlich herbeigewünſcht wird, ift
einfach diplomatiſcher Natur, das Verlan-
gen geht nach zahlreicherer Einſetzung von
Conſularagenten in Bosnien. Bei den ei-
genthümlichen Verhaͤltniſſen des osmaniſchen
Staaͤles iſt die Einmiſchung der Diploma-
tie in die innere Verwaltung durchaus nichts
regelwidriges, und auch ſonſt aus neueren
Erfahrungen genugſam befannt, daß die
Conſulate den traͤfügſten und auch den ein-
zigen Schutz für die Rajahs bilden. Doppelt
hetlagenswerih bleibt deßhalb der Mangel an
Conſulaten in Bosnien. Ja wenn das Land
eine große Verkehrslinie durchſchnitte, wenn
e$ auf dem Wege nach Oſtindien gelegen wäre !
Da Omer Paſcha die Baumwollenzufuhr
nicht bemmte, ſo konnte er ruhig Ehriſten
verfelgen und Prieſter foltern. Bis jetzt
hat von allen Großmächten Oeſterreich al-


Bosnien gedacht, und außer einem Gene-
ralconſul in Serajewo 4 Viceconſulate in
Moſtar, Livno, Banjaluka und Tuzla mit
großem Geldaufwand errichtet und mit Aus-
nahme des letztern Poſtens auch befetzt. Bei
der bekannten Bedächtigkeit der oͤſierreich.
Regierung in allen Geldfragen kann man
ihm Liberalität hinſichtlich der Conſulate in
Bosnien wohl als hinreichenden Beleg gel-
ten laſſen, welche Bedeutung ſie den Ereig-
niſſen in Bosnien beimeffe, Auch gewinnt
Oeſterreich dort täglich an Einfluß und An-
ſehen! Um aber die bosniſchen Gräueltha-
ten gründlich zu beſeitigen, dazu reicht Oe-
ſterreichs Einfluß für ſich nicht aus, eines-
theilg weil die Pforte aus fruͤheren Zeiten
den Nachbarſtaat immer nur auf ihrer Seite
zu ſehen gewohnt iſt, und dann auch weil
die Verfolgung weniger die katholiſchen als
die griechiſchen Ehriſten trifft. Dazu gehö-
ren gemeinſchaftliche Schritte aller Groͤß—
mächte. Vor einiger Zeit verlautete zwar
die Kunde von Einſetzung eines engliſchen
Conſulats in Serafewo, hegenwärtig iſt es
aber wieder ſtill davon geworden. Ebenſo
wenig hört man von irgend welchem Schritte
Frankreichs und Rußlands, ſich durch die
Aufſtellung offieieller Agenten von der Sach-
fage zu überzeugen, und ihren Einfluß zu
Gunſten ihrer Glaubensgenoſſen geltend zu
machen Namentlich von Seiten der letz-
teren Macht erſcheint dieſe Unthätigkeit ganz
unbegreifltch, Es handelt ſich doch um grie-
chiſche Chriſten, deren Rechte ſonſt jederzeit
von Rußland auf das eifrigſte verfochten
wurden es handelt ſich doch um die eigene
von Omer Paſcha in Bosnien nun beinahe
ausgeroitete Kirche. Rußland ſchweigt, und
läßt die gefeſſelten, mißhandelten Popen ver-
geblich die Anweſenheit eines ruſſiſchen Con-
ſuls/ von dem ſie allein Hülfe und Rettung
erwarten herbeiflehen! Wie foll man ſich
dieß erklären?

Um den Leſern eine deutliche Anſchauung
der bosniſchen Zuſtände zu verſchaffen und -
ſie zugleich von der Dringlichkeit einer Ab-
hülfe zu überzeugen, laffen wir bier zur
Ergänzung des in der Beilage der Sonn-
tagsnummer mitgetheiltea Briefes noch Bruch-
ſtuͤcke aus einem andern beglaubigten Schrei-
ben folgen, worin es heißt: „Eben &. D,
Anfangs Aug.) ſprach ich einen alten Poͤ—
pen, welchen nur ſein Greiſenalter vor
Thätlichkeiten geſchützt hatte, und der ein
Augenzeuge der beſtlaliſchen Mißhandlun-
gen geweſen, die an unſern Prieſtern ver-
übt wurden! Neunzig von ihnen wurden,
nachdem ſie die Baſtonade erhalten und
allen möglichen Schimpf erlitten, in den
Kerker geworfen. Hier trieben die Nizams .
viehiſchẽ Luſt mit ihnen (sodomiae beccato
polluant) und beſchnitten einzelne mit Ge-
walt. Dieß im 19. Jahrhundert! Wer
zählt die Zahl jener, die im Kerker Huns
gets flarben, wer ſagt wieder, welche Leis
den und Maͤrtern die Kerkerwaͤnde geſchaut!
Und die Abhülfe? Der menſchenfreundliche
Veli-Paſcha wollte zwar in Serajewo die
Disciplin unter den Nizams herſtellen und
bedrohte die Plünderer (ſie hatten den Brand
nur deßhalb gelöſcht um ihre Beute unver-
 
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