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letzten anderthalb Jahrhunderten von Grund auf veränderte.
Was sich im „Wilhelm Meister“ in weiter Ferne an pädagogischen,
sozialen, religiösen, sexuellen und politischen Problemen in meist
unscharfen Umrissen anzeigt, das verdichtet sich im „Grünen
Heinrich“ und findet den unserer Generation angemessenen Aus-
druck im „Jean-Christophe“. So steht Romain Rolland uns am
nächsten. Er, der Zeitgenosse, atmet die Luft, in der auch wir
leben. Sein Werk spricht unmittelbarer zu uns als das Goethes
und Kellers. Trotz der gewiß zahlreichen Fäden, die die Zeit und
die Menschen um 1800 und 1850 mit der und den unseren ver-
binden, gibt doch nur literatur- und kulturgeschichtlicheslnteresse
und Einfühlungsvermögen und das Wissen um die äußeren und
inneren Verhältnisse der Vergangenheit dem „Wilhelm Meister“
und dem „Grünen Heinrich“ das Leben wieder, das sie einst be-
saßen. Jean-Christophe Krafft aber lebt mitten unter uns. Wir
kennen die Stadt am Rhein und die Straßen von Paris, in denen
er aufwuchs und wirkte. Wir kennen auch seine stoffliche und
seelische Not und fühlen uns mit ihm bedrückt und erlöst. Das
Schicksal der gleichen Epoche liegt über uns und über ihm. Und
weil er dieses Schicksal überwindet — wie Wilhelm Meister und
Heinrich Lee das ihrer Zeit — deshalb beansprucht er mit Recht
eine ausführlichere Betrachtung als seine beiden Brüder, Wilhelm
Meister und Heinrich Lee.
Zu dem Ergebnis der inneren Einheit der drei Werke und der
in ihnen waltenden Entwicklung gesellt sich ein Weiteres. Die
vorliegende Arbeit will ein Baustein sein zu der Erkenntnis, wie
eng deutsche und französische Literatur aufeinander angewiesen
und miteinander verflochten sind. Diese Tatsache, die in der Dar-
stellung der neueren Dichtung immer mehr anerkannt wird, findet
vielleicht nirgends einen so eindeutigen Ausdruck wie im „Jean-
Christophe“, dessen inneres Wachsen weif mehr noch als sein
äußeres Erleben die beiden Nachbarländer miteinander verbindet.
Im Verlauf dieser Arbeit wird es nicht ausbleiben, daß der
Rahmen einer literarhistorischen Betrachtung mitunter über-
schritten wird, daß benachbarte Wissensgebiete berührt werden
und daß bei der überwältigenden Fülle des Stoffs— steht doch
letzten Endes die gesamte Kultur des Abendlandes, ihre Ver-
gangenheit und ihre Zukunft, in Frage — hier und da skizzenhafte
Andeutung an Stelle eingehender Behandlung notwendig wird.
Beides ist unvermeidbar, wenn das geschlossene Bild, das sich aus
dem „Wilhelm Meister“, dem „Grünen Heinrich“ und dem „Jean-
letzten anderthalb Jahrhunderten von Grund auf veränderte.
Was sich im „Wilhelm Meister“ in weiter Ferne an pädagogischen,
sozialen, religiösen, sexuellen und politischen Problemen in meist
unscharfen Umrissen anzeigt, das verdichtet sich im „Grünen
Heinrich“ und findet den unserer Generation angemessenen Aus-
druck im „Jean-Christophe“. So steht Romain Rolland uns am
nächsten. Er, der Zeitgenosse, atmet die Luft, in der auch wir
leben. Sein Werk spricht unmittelbarer zu uns als das Goethes
und Kellers. Trotz der gewiß zahlreichen Fäden, die die Zeit und
die Menschen um 1800 und 1850 mit der und den unseren ver-
binden, gibt doch nur literatur- und kulturgeschichtlicheslnteresse
und Einfühlungsvermögen und das Wissen um die äußeren und
inneren Verhältnisse der Vergangenheit dem „Wilhelm Meister“
und dem „Grünen Heinrich“ das Leben wieder, das sie einst be-
saßen. Jean-Christophe Krafft aber lebt mitten unter uns. Wir
kennen die Stadt am Rhein und die Straßen von Paris, in denen
er aufwuchs und wirkte. Wir kennen auch seine stoffliche und
seelische Not und fühlen uns mit ihm bedrückt und erlöst. Das
Schicksal der gleichen Epoche liegt über uns und über ihm. Und
weil er dieses Schicksal überwindet — wie Wilhelm Meister und
Heinrich Lee das ihrer Zeit — deshalb beansprucht er mit Recht
eine ausführlichere Betrachtung als seine beiden Brüder, Wilhelm
Meister und Heinrich Lee.
Zu dem Ergebnis der inneren Einheit der drei Werke und der
in ihnen waltenden Entwicklung gesellt sich ein Weiteres. Die
vorliegende Arbeit will ein Baustein sein zu der Erkenntnis, wie
eng deutsche und französische Literatur aufeinander angewiesen
und miteinander verflochten sind. Diese Tatsache, die in der Dar-
stellung der neueren Dichtung immer mehr anerkannt wird, findet
vielleicht nirgends einen so eindeutigen Ausdruck wie im „Jean-
Christophe“, dessen inneres Wachsen weif mehr noch als sein
äußeres Erleben die beiden Nachbarländer miteinander verbindet.
Im Verlauf dieser Arbeit wird es nicht ausbleiben, daß der
Rahmen einer literarhistorischen Betrachtung mitunter über-
schritten wird, daß benachbarte Wissensgebiete berührt werden
und daß bei der überwältigenden Fülle des Stoffs— steht doch
letzten Endes die gesamte Kultur des Abendlandes, ihre Ver-
gangenheit und ihre Zukunft, in Frage — hier und da skizzenhafte
Andeutung an Stelle eingehender Behandlung notwendig wird.
Beides ist unvermeidbar, wenn das geschlossene Bild, das sich aus
dem „Wilhelm Meister“, dem „Grünen Heinrich“ und dem „Jean-