Die Kraft der Bilder 3
und Veränderungen in einem Verhältnis steht. Nur: in welchem? Ein Mythos ist
dabei zu entzaubern, dem auch Prinzhorn anhing: der einer schlechthinnigen
Ursprünglichkeit dieser Werke, Eruptionen gleichsam aus einer verborgenen
und unberührten Magmaschicht der menschlichen Natur. Wie depraviert und
ungebildet ihre Urheber zum Teil auch waren, ein genauerer Blick zeigt, dass sie
ihre historische Umwelt, die des autoritären Wilhelmismus ebenso mitgebracht
haben, wie mehr oder weniger entwickelten Zeitgeschmack oder Rudimente
eines Zeichenunterrichts oder der Kunstkenntnis, Im übrigen waren sie abhän-
gige Subjekte eines gewissen Entwicklungsstandes der Psychiatrie, der sich in
diesen Bildern und Texten indirekt spiegelt. Ich sage dies allerdings nicht in der
Meinung, die Werke seien aus diesen Kontexten herzuleiten, wohl aber, um die
Legende ihrer absoluten Spontaneität zu entkräften.
Will man nun verstehen, warum man begann, diese Bilder aufzuheben, anzu-
schauen und ernst zu nehmen, muss man etwas weiter ausholen. Ihre bis heute
wachsende Überzeugungskraft hat mit einem weitreichenden Bewusstseins-
wandel zu tun, der sich in der Bildrevolution der Moderne niederschlägt. In
gebotener Kürze arbeiten wir ein dominantes Argument heraus, und dies an
drei Positionen, die der Realität des Wahns in verschiedener Weise ausgesetzt
waren: Friedrich Nietzsche, der 1888 in ihn abstürzte und im Jahre 1900 um-
nachtet starb; Sigmund Freud, der eine Art Sprache der Seele in ihren abnor-
men Zuständen entdeckte (die „Traumdeutung" erschien im Jahr 1900); und
Aby Warburg (gest. 1929), der Kunst- und Kulturwissenschaftler, der sein wis-
senschaftliches Oeuvre, phasenweise als Patient Binswangers in Kreuzungen,
dem Wahn abtrotzte und dabei eine Hypersensiblität für die affektiven Valen-
zen unterschiedlichster Bilder entwickelte.
Alle drei arbeiteten, auf unterschiedlichste Weise, an der gleichen unabweis-
baren Erfahrung. Friedrich Nietzsche erkannte, dass ein Kunst- und Realitäts-
verständnis, das sich an Harmonie, Vernunft und Beherrschung allein orien-
tiert, auf gefährliche Weise täuscht. Auf der Rückseite des Apollinischen ent-
deckte er die Affekte und Triebe, das Orgiastische, dem er den Namen des
Gottes Dionysos gab. Und er zeigte, dass bereits die Antike dies gewusst und
gestaltet hat. Und nur dann, wenn wir diese Seite an den Werken der Tradition
wiedererkennen, wenn wir sie aus der Bedeutungslosigkeit eines erstarrten,
antiquarischen Bildungswissens befreien und mit den Ansprüchen unseres
eigenen Lebens authentisch verbinden, kann sich die gegenwärtige Kultur pro-
duktiv weiterentwickeln. Nietzsche ersetzte die Idee des künstlerischen Gleich-
gewichtes durch diejenige der Intensität. Nicht normative, gemessene Schön-
heit überzeugt, sondern die Dichte und Vitalität einer Lebensspur.
An Sigmund Freud interessiert in diesem Zusammenhang die eine Epoche
eröffnende Einsicht, dass die Manifestationen des Begehrens keine bloße
Irrationalität markieren, sondern einer verborgenen Logik gehorchen, die sich
bestimmen lässt. Diese Aneignung des Verdrängten schuf nicht nur Heilungs-
chancen für Kranke, sie erweiterte das gesellschaftliche Erfahrungsfeld außer-
ordentlich und erlaubte es schließlich auch, kulturelle Manifestationen zu
erhellen. Ich erinnere nur an Freuds Analyse von Leonardo da Vincis „Anna-
und Veränderungen in einem Verhältnis steht. Nur: in welchem? Ein Mythos ist
dabei zu entzaubern, dem auch Prinzhorn anhing: der einer schlechthinnigen
Ursprünglichkeit dieser Werke, Eruptionen gleichsam aus einer verborgenen
und unberührten Magmaschicht der menschlichen Natur. Wie depraviert und
ungebildet ihre Urheber zum Teil auch waren, ein genauerer Blick zeigt, dass sie
ihre historische Umwelt, die des autoritären Wilhelmismus ebenso mitgebracht
haben, wie mehr oder weniger entwickelten Zeitgeschmack oder Rudimente
eines Zeichenunterrichts oder der Kunstkenntnis, Im übrigen waren sie abhän-
gige Subjekte eines gewissen Entwicklungsstandes der Psychiatrie, der sich in
diesen Bildern und Texten indirekt spiegelt. Ich sage dies allerdings nicht in der
Meinung, die Werke seien aus diesen Kontexten herzuleiten, wohl aber, um die
Legende ihrer absoluten Spontaneität zu entkräften.
Will man nun verstehen, warum man begann, diese Bilder aufzuheben, anzu-
schauen und ernst zu nehmen, muss man etwas weiter ausholen. Ihre bis heute
wachsende Überzeugungskraft hat mit einem weitreichenden Bewusstseins-
wandel zu tun, der sich in der Bildrevolution der Moderne niederschlägt. In
gebotener Kürze arbeiten wir ein dominantes Argument heraus, und dies an
drei Positionen, die der Realität des Wahns in verschiedener Weise ausgesetzt
waren: Friedrich Nietzsche, der 1888 in ihn abstürzte und im Jahre 1900 um-
nachtet starb; Sigmund Freud, der eine Art Sprache der Seele in ihren abnor-
men Zuständen entdeckte (die „Traumdeutung" erschien im Jahr 1900); und
Aby Warburg (gest. 1929), der Kunst- und Kulturwissenschaftler, der sein wis-
senschaftliches Oeuvre, phasenweise als Patient Binswangers in Kreuzungen,
dem Wahn abtrotzte und dabei eine Hypersensiblität für die affektiven Valen-
zen unterschiedlichster Bilder entwickelte.
Alle drei arbeiteten, auf unterschiedlichste Weise, an der gleichen unabweis-
baren Erfahrung. Friedrich Nietzsche erkannte, dass ein Kunst- und Realitäts-
verständnis, das sich an Harmonie, Vernunft und Beherrschung allein orien-
tiert, auf gefährliche Weise täuscht. Auf der Rückseite des Apollinischen ent-
deckte er die Affekte und Triebe, das Orgiastische, dem er den Namen des
Gottes Dionysos gab. Und er zeigte, dass bereits die Antike dies gewusst und
gestaltet hat. Und nur dann, wenn wir diese Seite an den Werken der Tradition
wiedererkennen, wenn wir sie aus der Bedeutungslosigkeit eines erstarrten,
antiquarischen Bildungswissens befreien und mit den Ansprüchen unseres
eigenen Lebens authentisch verbinden, kann sich die gegenwärtige Kultur pro-
duktiv weiterentwickeln. Nietzsche ersetzte die Idee des künstlerischen Gleich-
gewichtes durch diejenige der Intensität. Nicht normative, gemessene Schön-
heit überzeugt, sondern die Dichte und Vitalität einer Lebensspur.
An Sigmund Freud interessiert in diesem Zusammenhang die eine Epoche
eröffnende Einsicht, dass die Manifestationen des Begehrens keine bloße
Irrationalität markieren, sondern einer verborgenen Logik gehorchen, die sich
bestimmen lässt. Diese Aneignung des Verdrängten schuf nicht nur Heilungs-
chancen für Kranke, sie erweiterte das gesellschaftliche Erfahrungsfeld außer-
ordentlich und erlaubte es schließlich auch, kulturelle Manifestationen zu
erhellen. Ich erinnere nur an Freuds Analyse von Leonardo da Vincis „Anna-