2 Gottfried Boehm
Hier soll vom historischen und sachlichen Ort ihres Inhaltes, der sogenann-
ten „Kunst von Geisteskranken", die Rede sein, bevor wir uns damit beschäf-
tigen wollen, was diesen Bildern ihren Sinn und ihre Kraft verleiht. Wir
verschieben die Debatte damit auf eine andere Ebene, und zwar aus zwei Grün-
den: Zum einen ist dies kein Museum für Dokumente der Psychiatriege-
schichte, zum anderen auch kein weiteres Museum für moderne Kunst, so sehr
diese gegenwärtig auch Konjunktur haben mögen. Es ist, so der Vorschlag, ein
Museum für Bilder, die sich ja gar nicht darum scheren, ob wir sie als Kunst an-
sprechen oder nicht. Wenn uns das 20. Jahrhundert diesbezüglich eine Lehre
hinterlassen hat, dann die, dass die Grenzen der Kunst ad libitum verschiebbar
sind. Die Frage nach einer quantitativen Definition - Ist das noch Kunst? - hat
sich damit erledigt. Sie kehrt als qualitative Frage zurück: Was setzt Bildwerke
instand, uns auf diese oder jene Weise, so oder so zu überzeugen?
II
Es herrscht inzwischen Einvernehmen darüber, dass die Sammlung Prinz-
horn einen historischen Sonderfall darstellt. Aber nicht nur und primär
wegen ihres außerordenüichen Umfangs von etwa 5000 Werken und ihrer
viel gerühmten Dichte, sondern deshalb, weil der produktive Nachschub ver-
ebbt. Die Gründe dafür liegen u.a. in veränderten Therapien, in der Möglich-
keit, das psychotische Geschehen mit Medikamenten zu dämpfen, damit aber
auch die affektiven Spannungsbögen abzuflachen, denen sich diese Bild-
werke verdanken. Der ruhig gestellte Patient verfügt in der Regel nicht län-
ger über gestalterische Antriebe. Mit dem medizinischen Fortschritt und der
Verminderung des Leidens verbindet sich ein Verschwinden dieser speziel-
len Bilder. Die Produkte gelenkter Mal- oder Kunsttherapien sind qualitativ
etwas ganz anderes.
Wir wissen sehr wenig, was die Anstaltspatienten vor jener Zeit gemalt oder
gestaltet haben, den Jahren zwischen 1890 und 1920, aus denen die Werke der
Prinzhorn-Sammlung allesamt stammen. Vermutlich folgten auch sie ihrem
Drang, aber man vermochte ihren Artefakten damals keine psychiatrische
oder gar künstlerische Bedeutung beizumessen und hat sie deshalb als „dum-
mes Zeug" verworfen und entsorgt. Die schiere Erhaltung der Bilder, aus wel-
chen Gründen auch immer, lässt bereits auf veränderte Sensibilitäten
schliessen. Es ist offensichtlich alles andere als ein Zufall, dass die Prinz-
horn-Sammlung eine historische Phase erschließt, die wir heute die „klassi-
sche" Moderne nennen. Klassisch deshalb, weil in dieser Zeit für den ganzen
Bereich der bildnerischen Gestaltung neue, maßgebende und fortwirkende
Grundlagen geschaffen wurden, in der wohl tiefgreifendsten Revolution, wel-
che die europäische Bildgeschichte je erlebt hat. Diese Revolution war nicht nur
ein disziplinares Ereignis der Kunstgeschichte allein, sie erfasste die gesamte
Kultur, wie sie umgekehrt von eben dieser Kultur auch ausgelöst wurde. Von
dem Moment an, da man die Bildnerei der Geisteskranken überhaupt beachtet
hat, geschah dies in der Meinung, dass sie mit zeitgenössischen Produktionen
Hier soll vom historischen und sachlichen Ort ihres Inhaltes, der sogenann-
ten „Kunst von Geisteskranken", die Rede sein, bevor wir uns damit beschäf-
tigen wollen, was diesen Bildern ihren Sinn und ihre Kraft verleiht. Wir
verschieben die Debatte damit auf eine andere Ebene, und zwar aus zwei Grün-
den: Zum einen ist dies kein Museum für Dokumente der Psychiatriege-
schichte, zum anderen auch kein weiteres Museum für moderne Kunst, so sehr
diese gegenwärtig auch Konjunktur haben mögen. Es ist, so der Vorschlag, ein
Museum für Bilder, die sich ja gar nicht darum scheren, ob wir sie als Kunst an-
sprechen oder nicht. Wenn uns das 20. Jahrhundert diesbezüglich eine Lehre
hinterlassen hat, dann die, dass die Grenzen der Kunst ad libitum verschiebbar
sind. Die Frage nach einer quantitativen Definition - Ist das noch Kunst? - hat
sich damit erledigt. Sie kehrt als qualitative Frage zurück: Was setzt Bildwerke
instand, uns auf diese oder jene Weise, so oder so zu überzeugen?
II
Es herrscht inzwischen Einvernehmen darüber, dass die Sammlung Prinz-
horn einen historischen Sonderfall darstellt. Aber nicht nur und primär
wegen ihres außerordenüichen Umfangs von etwa 5000 Werken und ihrer
viel gerühmten Dichte, sondern deshalb, weil der produktive Nachschub ver-
ebbt. Die Gründe dafür liegen u.a. in veränderten Therapien, in der Möglich-
keit, das psychotische Geschehen mit Medikamenten zu dämpfen, damit aber
auch die affektiven Spannungsbögen abzuflachen, denen sich diese Bild-
werke verdanken. Der ruhig gestellte Patient verfügt in der Regel nicht län-
ger über gestalterische Antriebe. Mit dem medizinischen Fortschritt und der
Verminderung des Leidens verbindet sich ein Verschwinden dieser speziel-
len Bilder. Die Produkte gelenkter Mal- oder Kunsttherapien sind qualitativ
etwas ganz anderes.
Wir wissen sehr wenig, was die Anstaltspatienten vor jener Zeit gemalt oder
gestaltet haben, den Jahren zwischen 1890 und 1920, aus denen die Werke der
Prinzhorn-Sammlung allesamt stammen. Vermutlich folgten auch sie ihrem
Drang, aber man vermochte ihren Artefakten damals keine psychiatrische
oder gar künstlerische Bedeutung beizumessen und hat sie deshalb als „dum-
mes Zeug" verworfen und entsorgt. Die schiere Erhaltung der Bilder, aus wel-
chen Gründen auch immer, lässt bereits auf veränderte Sensibilitäten
schliessen. Es ist offensichtlich alles andere als ein Zufall, dass die Prinz-
horn-Sammlung eine historische Phase erschließt, die wir heute die „klassi-
sche" Moderne nennen. Klassisch deshalb, weil in dieser Zeit für den ganzen
Bereich der bildnerischen Gestaltung neue, maßgebende und fortwirkende
Grundlagen geschaffen wurden, in der wohl tiefgreifendsten Revolution, wel-
che die europäische Bildgeschichte je erlebt hat. Diese Revolution war nicht nur
ein disziplinares Ereignis der Kunstgeschichte allein, sie erfasste die gesamte
Kultur, wie sie umgekehrt von eben dieser Kultur auch ausgelöst wurde. Von
dem Moment an, da man die Bildnerei der Geisteskranken überhaupt beachtet
hat, geschah dies in der Meinung, dass sie mit zeitgenössischen Produktionen