Der blinde Fleck der Gestalt. Prinzhorns Formalismus
Beat Wyss
Zusammenfassung
Wer 1922 über die inhaltliche Ausbeute von Zeichnungen der Gei-
steskranken enttäuscht war, verkennt Prinzhorns Motive, in dieser
Hinsicht vorsichtig zu sein. Er hütete sich vor dem Applaus der fal-
schen Seite. Leider sollte der Autor recht bekommen: Die Sammlung
Prinzhorn verdankt ihr Überleben in der Nazizeit dem Umstand,
dass die Bestrebungen des Psychiaters genau von dessen befürchte-
ten Missverstand abgeholt wurden. Prinzhorns Blick auf die Zeich-
nungen der Geisteskranken ist absolut modern, sofern er sie nicht
ikonografisch, sondern produktionsästhetisch betrachtet. Seine
Grundgedanken gehören zum Fundus avancierter zeitgenössischer
Anschauungen über Kunst. Die markantesten Übereinstimmungen
finden sich bei den Stiltheoretikern und Formalisten wie Konrad
Fiedler, Alois Riegl und Wilhelm Worringer.
Es liegt keine Schwäche im analytischen Ansatz vor, sondern eine
Denkgrenze wird erkennbar: Das moderne Wissen kann Leben nur
beschreiben, indem es dessen Impulse aufzeichnet. Erklären kann es
sie nicht. Der Verzicht auf klassifizierende Deutung der Ausdrucks-
formen entspricht moderner Linguistik, die nicht Inhalte, sondern
Struktur untersucht, sich nicht für die Aussage, sondern für den
Sprechakt interessiert. Parallel dazu besteht das moderne Bild aus
einer Ausdrucksbewegung, die als Spur nicht auf einen Referenten
zeigt, sondern auf den Signifikanten. Das moderne Bild steht unter
der Dominanz des ,Index' im Sinne von Charles Peirce. Vergleichbar
dem Seismographen eines Erdbebens, ist die Hand des Geisteskran-
ken das Medium seiner Erregungen, die auf dem Blatt Papier eine
absolute Spur hinterlässt. Nicht was, sondern nur dass ihn was
bewegt, ist Thema der Bildnerei.
Beat Wyss
Zusammenfassung
Wer 1922 über die inhaltliche Ausbeute von Zeichnungen der Gei-
steskranken enttäuscht war, verkennt Prinzhorns Motive, in dieser
Hinsicht vorsichtig zu sein. Er hütete sich vor dem Applaus der fal-
schen Seite. Leider sollte der Autor recht bekommen: Die Sammlung
Prinzhorn verdankt ihr Überleben in der Nazizeit dem Umstand,
dass die Bestrebungen des Psychiaters genau von dessen befürchte-
ten Missverstand abgeholt wurden. Prinzhorns Blick auf die Zeich-
nungen der Geisteskranken ist absolut modern, sofern er sie nicht
ikonografisch, sondern produktionsästhetisch betrachtet. Seine
Grundgedanken gehören zum Fundus avancierter zeitgenössischer
Anschauungen über Kunst. Die markantesten Übereinstimmungen
finden sich bei den Stiltheoretikern und Formalisten wie Konrad
Fiedler, Alois Riegl und Wilhelm Worringer.
Es liegt keine Schwäche im analytischen Ansatz vor, sondern eine
Denkgrenze wird erkennbar: Das moderne Wissen kann Leben nur
beschreiben, indem es dessen Impulse aufzeichnet. Erklären kann es
sie nicht. Der Verzicht auf klassifizierende Deutung der Ausdrucks-
formen entspricht moderner Linguistik, die nicht Inhalte, sondern
Struktur untersucht, sich nicht für die Aussage, sondern für den
Sprechakt interessiert. Parallel dazu besteht das moderne Bild aus
einer Ausdrucksbewegung, die als Spur nicht auf einen Referenten
zeigt, sondern auf den Signifikanten. Das moderne Bild steht unter
der Dominanz des ,Index' im Sinne von Charles Peirce. Vergleichbar
dem Seismographen eines Erdbebens, ist die Hand des Geisteskran-
ken das Medium seiner Erregungen, die auf dem Blatt Papier eine
absolute Spur hinterlässt. Nicht was, sondern nur dass ihn was
bewegt, ist Thema der Bildnerei.