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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0101
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Werte für ein demokratisches Bildungswesen 89

Auf dem Höhe- und zugleich Wendepunkt der europäischen Aufklärung,
unserem fünften Gipfel: Immanuel Kant, lernen wir drei Kernelemente moder-
ner Gemeinwesen kennen. Erstens gebührt dem Recht der absolute Vorrang
vor allen anderen Werten. Vorausgesetzt ist allerdings zweitens, dass das Recht
sich einem normativen, moralischen Kriterium, der Gerechtigkeit, unterwirft.
Ihr wiederum liegt als dritter Wert eine gesteigerte Form von Wechselseitigkeit
und Gleichheit zu Grunde, der absolute Wert jedes einzelnen Menschen, der
auch Menschenwürde genannt wird. Ihretwegen erhält die Frage nach dem ge-
sellschaftlichen Zusammenhalt ein Recht, gibt ihren bisherigen Vorrang aber
an die Frage ab, wie die Gesellschaft den Wert des Einzelnen schützt. Dazu
kommt viertens, dass diese Werte nicht nur innerhalb von Staaten, sondern
auch zwischen ihnen gelten, weshalb es einer globalen Rechts- und Friedens-
ordnung bedarf.

Kants Antwort auf die wichtiger gewordene Frage ist so überzeugend, dass
der bedeutendste Gerechtigkeitstheoretiker der letzten Jahrzehnte, John Rawls,
sie im Wesentlichen übernimmt. Sie besteht im Prinzip der allgemeinver-
träglichen Freiheit: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter
denen die Willkür [sprich: Handlungsfreiheit] des einen mit der Willkür des
andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt wer-
den kann." (Kant, Rechtslehre, § B). Weil auf diese Freiheit jeder Mensch einen
unaufgebbaren Anspruch hat, verbindet sie sich mit der Befugnis zu zwingen
und rechtfertigt, freilich erst über einige Zusatzargumente, das Rechtsinstitut
der staatlichen Kriminalstrafe.

Bei der zu ihr gehörenden Liste von Delikten stößt man übrigens auf einen
erstaunlichen Befund: Setzt man einmal die Feinbestimmungen beiseite, so fin-
det man seit mehr als dreieinhalb Jahrtausenden, seit dem Kodex Hammurapi,
weitgehend dieselben Rechtsgüter geschützt. Von Tötungs-, Eigentums- und
Ehrdelikten über das Verbot an Maß-, Gewichts- und Urkunden(ver)fälschung
bis zu Umweltdelikten erweist sich das Strafrecht zu einem bemerkenswert
großen Teil als gemeinsames Erbe der Menschheit.

Das Thema, das der Redztsethiker Kant zurückstuft, greift hundert Jahre
später der GeseZZsc/za/fetheoretiker Emile Durkheim auf, weshalb wir die ein-
schlägige „Studie über die Organisation höherer Gesellschaften" {De la division
de travail social, 1893), als sechsten Gipfel betrachten. Durkheim konstatiert hier
zweierlei. Auf der sozialen Seite erklärt er die Solidarität zu dem für den Zusam-
menhalt einer Gesellschaft entscheidenden Wert. Auf der persönlichen Seite
stellt er dagegen eine zunehmende Individualisierung fest, die aber im Gegen-
satz zu einem weit verbreiteten Pessimismus keineswegs jede Bindung unter-
grabe. Mit der Individualisierung gehe nämlich eine Teilung der gesellschaft-
lichen Arbeit einher, die eine immer dichtere Kooperation und funktionale
Abhängigkeit mit dem Bewusstwerden der unverzichtbaren Einmaligkeit der
Individualität verbinde. Dabei wandle sich die ursprüngliche Gestalt, die „or-
ganische Solidarität" der einfachen Gesellschaften mit ihrer überschaubaren
 
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