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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0102

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90 Otfried Hoffe

Lebenswelt, zu einer „mechanischen Solidarität". Diese entspricht nicht der
von Aristoteles betonten Freundschaft, auch nicht modernen Äquivalenten, et-
wa dem dritten Prinzip der Französischen Revolution, der Brüderlichkeit, son-
dern dem Recht. Namentlich die (Straf-)Gerechtigkeit diene der Abschreckung
abweichenden Verhaltens und ziehe im Fall der Verletzung quasi-mechanisch
die Vergeltung, die Strafe, nach sich. Auf diese Weise behalten auch für die
Soziologie das Recht und die Gerechtigkeit ihren überragenden Rang.

Auf dem siebenten und letzten Gipfel, einem Doppelgipfel, bekräftigt John
Rawls den Vorrang des moralischen Rechtsbegriffs, wenn er die entsprechen-
de, nicht personale, sondern soziale Gerechtigkeit zur ersten Tugend der Ge-
sellschaft erklärt. Im Unterschied zu Kant und Durkheim spielt er aber das
Gewicht von Zwangsbefugnis und Strafe herunter und vertraut die Stabi-
lität einer (wohlgeordneten) Gesellschaft dem Gerechtigkeitssinn an, womit
er mehr mit Aristoteles als mit Kant übereinstimmt: Hauptsächlich baue ei-
ne Gesellschaft auf der Freundschaft und dem Vertrauen der Bürger auf, fer-
ner auf dem Wissen um gemeinsame Gerechtigkeitsgrundsätze und der zum
Persönlichkeitsmerkmal gewordenen Haltung, entsprechend zu leben.l6 Rawls'
sozialethischer Gegenspieler, der Kommunitarismus, betont dagegen den Wert
kultureller Besonderheiten. Weil ohne sie und das darauf aufbauende Gefühl
der Zugehörigkeit, das Wir-Gefühl, keine Gesellschaft die für den Zusammen-
halt notwendigen moralischen Ressourcen zu erneuern vermöge, brauche es
überschaubare, auf gemeinsame Werte verpflichtete Einheiten. Nur in ihnen,
nicht in anonymen, (über-)pluralistischen Gesellschaften und am wenigsten
in einer Weltgesellschaft sei ein solidarisches Zusammenleben möglich.

III Werte liberaler Demokratien

Für liberale Demokratien drängen sich fünf Dimensionen von Werten auf, die
allesamt im Blick in die Geschichte schon aufgetaucht sind. Ohne Anspruch
auf Vollständigkeit skizzieren wir sie exemplarisch. Weil es auf die Bildung
ankommt, heben wir vor allem auf die grundlegende Schicht, die Grundwerte,
ab.

Bei der ersten Dimension ist von den einleitend genannten drei methodi-
schen Elementen, Anthropologie plus Ethik plus Zeitdiagnose, zunächst das
erste Moment wichtig: Auch liberale Demokratien sind Gesellschaften, deren
Mitglieder wie alle Menschen zunächst einmal überleben, überdies angenehm
und sicher leben wollen; die erforderlichen Güter und Dienstleistungen fliegen
ihnen aber nicht wie im Schlaraffenland die gebratenen Tauben fertig zu. Selbst
dort, wo die erforderliche Arbeit nicht im sprichwörtlichen „Schweiße unse-
res Angesichts" geschieht, erfolgt sie im Gegensatz zu einer „angeborenen"
Trägheit, überdies angesichts knapper Ressourcen und in Konkurrenz mit an-
deren. Die entsprechende Wirtschafts- und Arbeitswelt begründet daher die

16 Rawls 1971, §§ 69-77 und 88.
 
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