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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0237

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Bildung als kritisches Korrektiv der Gesellschaft

Über die Wechselfälle eines großen Anspruchs

ROSE BOENICKE

Vorbemerkung

Gegenwärtige Diskussionen des Stellenwerts von Bildung werden als Stand-
ortdiskussionen geführt. Mittelmäßige Schülerleistungen im internationalen
Vergleich? Das gefährdet die Positionierung im globalen Wettbewerb um An-
gebote an attraktiven wirtschaftlichen Standortfaktoren. Entsprechend fal-
len die Interpretationen der bestenfalls mittelmäßigen Leistungsdaten deut-
scher Schüler aus: Das deutsche Bildungssystem entwickle zu wenig die Poten-
ziale Heranwachsender in einem breiten Spektrum an Kompetenzen - von Pro-
blemlösefähigkeit bis zu sozialen Kompetenzen -, es sei zu wenig förderorien-
tiert, mache Bildungsgangentscheidungen in aller Regel zu Selektionsentschei-
dungen anstatt vorhandene Ressourcen optimal zu unterstützen, und dies
in einem sonst ressourcenarmen Land, für das der Ausbildungsstand der
Bevölkerung von besonderer ökonomischer Relevanz ist.

In diesen Formulierungen bündeln sich Argumente, die mehr Bildung for-
dern, tatsächlich aber mehr und andere Qualifikationen meinen. Nun ist es
zwar wenig sinnvoll, Bildung und Qualifikation gegeneinander auszuspielen:
Bildungsprozesse entstehen in unserer Gesellschaft im Rahmen von Ausbil-
dungsgängen, die auf Qualifikationserwerb zielen, und nicht wie im 18. Jahr-
hundert als individuelle Suche nach bildenden Erfahrungen, sei es auf Reisen
oder als einsame cultura animi. Immer war mit Bildung ein über Qualifikati-
onsmaßnahmen hinausgehender Überschuss an Fähigkeiten, sich zu sich selbst
und zur Welt verhalten zu können, gemeint, der nicht in Verwertungskategorien
aufgeht, sondern deren kritische Reflexionsinstanz ist. Im Bildungsideal hatte
sich die Moderne ein Korrektiv gegenüber bloßen Funktionsbestimmungen
eröffnet und damit die Möglichkeit, immer wieder aufs Neue problematisieren
zu können, was unter gelingendem Leben verstanden werden kann.

Dieser in den Humanismus zurückreichende und im Aufklärungsdenken
des 18. Jahrhunderts eine besondere Resonanz entfaltende Diskurs hat durch
die Institutionalisierung von Bildungsgängen und die Verschulung großer Tei-
le der Lebenszeit von Heranwachsenden im 19. und 20. Jahrhundert eine neue
 
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