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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0175

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Bildungskrisen und Selbstorganisation der Kultur

Zur Eigendynamik von Bildungsprozessen in der Moderne

HARTMUT TITZE

Das Leben muss vorwärts geführt, es kann aber nur rückwärts gedeutet wer-
den. Dieser Gedanke des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813-1855)
trifft die zentralen Einsichten, zu denen wir bei der Auswertung historischer
Massendaten zum Bildungswesen seit Mitte der 1970er Jahre gelangt sind.
Am Beginn unserer Forschungen stand das Interesse an einer aufgeklärten
politischen Steuerung der damals wieder ins Blickfeld kommenden Lehrer-
arbeitslosigkeit in Deutschland. Durch dieses ursprüngliche Interesse („Für
die Einstellung aller Lehrer") kam das langfristig angelegte Projekt auch zu
seinem Namen (QUAKRI - historische Analyse von QUAlifikationsKRIsen in
Preußen). Nach knapp drei Jahrzehnten systematischer Forschung können wir
formulieren, dass wir in Gestalt der periodischen Bildungskrisen einen in der
Tiefenstruktur wirksamen Mechanismus der Kultur gefunden haben. Die For-
mulierung von Kierkegaard aufgreifend: Das gesellschaftliche Leben seit der
Aufklärung kann von uns rückwärts als Bildungsprozess gedeutet werden.

1 Die Kultur der Aufklärung

Die moderne Gesellschaft bildete sich in ihren wesentlichen Strukturen im
18. und 19. Jahrhundert heraus. In der Aufklärung kam sie in Bewegung. Um
den sozialen Wandel seither zu begreifen, sollten wir Klarheit zu drei grund-
legenden Fragen gewinnen: Was heißt Freisetzung? Was bedeutet die Ver-
selbstständigung des Lebenslaufs? Wie lernen die Generationen? Die bürger-
lichen Schichten waren im Aufklärungszeitalter die Träger des Aufbruchs und
des Wandels. Die entscheidende gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung der
Aufklärungsbewegung lag darin, dass sie die reflektierende Haltung des Indivi-
duums gegenüber seinem Arbeitsgegenstand und seiner Umwelt zum Durch-
bruch brachte. Die über viele Generationen schleichend wirksame Emanzipa-
tion von der ständischen Gebundenheit des gemeinschaftlichen Lebens bis zur
modernen Flexibilität des Individuums in der Weltgesellschaft ist am besten
zu vergegenwärtigen, indem man sich zunächst in einer ersten Überlegung
Aufklärung als Freisetzung vor Augen führt. Der allmähliche Strukturwandel
 
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