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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0176

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164 Hartmut Titze

bei der Tradierung der Kultur auf die nachwachsenden Generationen kann in
der Abfolge von drei idealtypischen Modellen deutlich gemacht werden, die
den Nachwuchs fortschreitend zur Selbstbildung freisetzten.

1.1 Aufklärung als Freisetzung

Das erste Modell (Tradierung durch Mz Zähmung) finden wir am reinsten
im bäuerlichen Leben verwirklicht. In der über Jahrhunderte hinweg kaum
veränderlichen, durch die Härte der körperlichen Arbeit geprägten Lebenswelt
wuchsen die Kinder durch selbstverständliche Teilnahme am Leben in Haus
und Hof in ihren erwachsenen Status hinein. Der jeweiligen Reife und Leis-
tungsfähigkeit entsprechend wurden sie in die verschiedenen Tätigkeiten der
bäuerlichen Hauswirtschaft von klein auf einbezogen und konnten sich durch
konkreten Mitvollzug in ihr späteres Leben allmählich einüben. Ausdrücklich
vorgemacht wurden ihnen die seit altersher gleichbleibenden Handgriffe nicht.
Diese genuin traditionale Form der bäuerlichen Erziehung ist reine funktionale
Erziehung, eine ihrer selbst nicht bewusste Umgangserziehung. Die Erziehung
ist noch vollständig dem Leben eingelagert und vollzieht sich gleichsam von
selbst.

Im zweiten Modell (Tradierung durch Nac/zahmung) wird der Handwer-
ker in einer regelrechten Lehre auf seinen Stand vorbereitet. In der Werkstatt
geschieht die Erziehung weniger durch Mitahmung als durch Nachahmung:
Der Lehrling schaut dem Meister zunächst zu, um das vorbildliche Werk dann
selber nachmachen zu können. Dieser Schritt vom reinen Mitvollzug zur Nach-
ahmung ist pädagogisch sehr interessant, kündigt er doch in der Spanne zwi-
schen Zusehen und Nachmachen die Herausbildung eines Freiheitsspielraums
an, der später eine individualisierte Aneignung der Tradition erst gestatten
wird. Im Unterschied zum Mitvollzug, der die Tradition gleichsam organisch
fortsetzt, trennt die Nachahmung in der Werkstatt durch den Hiatus zwischen
Zusehen und Nachmachen die Überlieferung und ihre Aneignung und im-
pliziert damit ein Moment von Besonnenheit und Distanz zur Tradition. Das
Leben tritt sozusagen aus der Praxis des Mit-Lebens heraus und wird - im
Moment des Zusehens und der Besinnung - theoretisch. Um die spätere Or-
ganisation des Lernens in der Schule voll zu verstehen, müssen wir uns an
diesem Modell der Nachahmung die Zeitspanne zwischen Zusehen und Nach-
machen als allmählich immer mehr erweiterten und zeitlich gestreckten Lern-
raum vorstellen. Die moderne Schule ist der aus der Lebenspraxis ausgeklinkte
Lernspielraum der jungen Generation zur Aneignung der Lebenspraxis.

In der familialen Erziehung des gehobenen Bürgertums ist das dritte Mo-
dell des reflektierten Aneignens der Kultur durch Lernen erstmals verwirklicht
worden. Wir können auch formulieren: Im ausgehenden 18. Jahrhundert wird
das Verhältnis der Generationen als Lernprozess erstmals historisch bewusst.
Die Sturm-und-Drang-Generation will anders leben als die Elterngenerati-
on, nicht einfach durch Nachahmung die Tradition fortsetzen. Zwischen den
 
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