Zwischen Vorurteilen und Missverständnissen
Zur Situation der Geisteswissenschaften
DIETER TEICHERT
I Vorurteile
Vorurteil 1:
Die Geisteswissenschaften sind unpräzise und vage
Defizite an Präzision und Vagheiten im schlechten Sinn gibt es in den Geistes-
wissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften. Nicht jeder Geistes-
wissenschaftler ist ein guter Geisteswissenschaftler. Für Naturwissenschaftler
gilt dasselbe.
Gute Geisteswissenschaftler artikulieren sich nicht im schlechten Sinn va-
ge. Aber es ist wichtig, terminologische Präzision und Strenge der Gedan-
kenführung nicht zu verwechseln.
Tatsächlich haben Geisteswissenschaftler selbst eine Einschätzung ihrer
Disziplinen als nicht-präzise Wissenschaften verbreitet. Jacob Grimm - viel-
leicht der früheste Beleg hierfür - spricht 1846 von „ungenauen" Wissenschaf-
ten. s Bei Grimm und anderen bezieht sich diese Bezeichnung auf die Verfah-
rensweise der philologischen und historischen Fächer. Dabei ist der Kontrast
zu den exakten Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften moti-
vierend. Man sagt: die Geisteswissenschaften arbeiten nicht mit präzise quan-
tifizierenden Verfahren wie die meisten Naturwissenschaften. Dabei handelt
es sich nicht um ein Defizit, sondern um eine Eigenart. Primär in den philo-
logischen und historischen Fächern gilt dies über große Strecken. Es wäre un-
bedacht, die Etikettierung auch heute noch ohne weiteres anzuwenden. Drei
Gründe will ich hierfür nennen:
1. Die Geschichtswissenschaft ist ohne quantifizierende Methode, ohne Sta-
tistik nicht mehr denkbar. Beispiele sind die Wirtschaftsgeschichte oder Klima-
geschichte (Schule der „Annales", Marc Bloch, Lucien Febvre, Fernand Braudel).
Für die Philologie und die Linguistik gilt derselbe Befund.
2. Die Vorstellung, alle Naturwissenschaften wären durchgängig als exak-
te und präzise Wissenschaften zu bestimmen, ist falsch. Das gilt in zweierlei
Grimm 1884,563.
Zur Situation der Geisteswissenschaften
DIETER TEICHERT
I Vorurteile
Vorurteil 1:
Die Geisteswissenschaften sind unpräzise und vage
Defizite an Präzision und Vagheiten im schlechten Sinn gibt es in den Geistes-
wissenschaften ebenso wie in den Naturwissenschaften. Nicht jeder Geistes-
wissenschaftler ist ein guter Geisteswissenschaftler. Für Naturwissenschaftler
gilt dasselbe.
Gute Geisteswissenschaftler artikulieren sich nicht im schlechten Sinn va-
ge. Aber es ist wichtig, terminologische Präzision und Strenge der Gedan-
kenführung nicht zu verwechseln.
Tatsächlich haben Geisteswissenschaftler selbst eine Einschätzung ihrer
Disziplinen als nicht-präzise Wissenschaften verbreitet. Jacob Grimm - viel-
leicht der früheste Beleg hierfür - spricht 1846 von „ungenauen" Wissenschaf-
ten. s Bei Grimm und anderen bezieht sich diese Bezeichnung auf die Verfah-
rensweise der philologischen und historischen Fächer. Dabei ist der Kontrast
zu den exakten Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften moti-
vierend. Man sagt: die Geisteswissenschaften arbeiten nicht mit präzise quan-
tifizierenden Verfahren wie die meisten Naturwissenschaften. Dabei handelt
es sich nicht um ein Defizit, sondern um eine Eigenart. Primär in den philo-
logischen und historischen Fächern gilt dies über große Strecken. Es wäre un-
bedacht, die Etikettierung auch heute noch ohne weiteres anzuwenden. Drei
Gründe will ich hierfür nennen:
1. Die Geschichtswissenschaft ist ohne quantifizierende Methode, ohne Sta-
tistik nicht mehr denkbar. Beispiele sind die Wirtschaftsgeschichte oder Klima-
geschichte (Schule der „Annales", Marc Bloch, Lucien Febvre, Fernand Braudel).
Für die Philologie und die Linguistik gilt derselbe Befund.
2. Die Vorstellung, alle Naturwissenschaften wären durchgängig als exak-
te und präzise Wissenschaften zu bestimmen, ist falsch. Das gilt in zweierlei
Grimm 1884,563.