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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0140

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128 Dieter Teichert

Hinsichten: Zunächst ist Präzision in vielen theoretischen Zusammenhängen
ein relativer Begriff: In allen Bereichen, in denen empirisches Wissen gebildet
wird, können Normen der Präzision und Exaktheit nur hinsichtlich der kon-
kreten Problemstellung bestimmt werden. Präzision ist sinnvollerweise nur im
Rahmen der Möglichkeiten der Messinstrumente und der Relevanz der Da-
tenfeinheit für die Fragestellung zu verlangen. Ein einfaches Beispiel illustriert
diesen Punkt: die kartographische Darstellung der Uferlinie des Bodensees und
die Berechnung der Uferlänge fallen je nach Wahl des Maßstabs unterschied-
lich aus. Bekanntlich wird das Ufer des Bodensees immer länger, je größer
die Auflösung ist. Faktisch bestimmt eine an Zweckmäßigkeit und Brauchbar-
keit orientierte Entscheidung, was als verbindlich und präzise angesehen wird.
Prinzipiell kann man sagen: die offiziellen Karten und Angaben der Grund-
buchämter entsprechen nicht mit absoluter Präzision den Tatsachen.

3. Exaktheit und Präzision gehören sicherlich zu den wissenschaftlichen
Tugenden. In den formalen Disziplinen manifestieren sich diese Tugenden in
blendendem Glanz. Aber mit Präzision und Exaktheit allein kommen auch die
exakten Wissenschaften nicht aus:

„Es ist in der wissenschaftlichen Arbeit notwendig, für die Grundbegriffe der
jeweiligen Disziplin präzise Explikationen anzugeben. [... ] Hinreichend für
erfolgreiche wissenschaftliche Forschung sind präzise angegebene Grundbe-
griffe allerdings bei weitem nicht. Für effektive wissenschaftliche Untersu-
chungen kommt es darauf an, dass Raum für Phantasie und schöpferische
Gedankengänge bleibt."2

Die exakten Wissenschaften sind nicht durchgängig exakt und präzise. Und
die Geisteswissenschaften verfahren zumindest partiell exakt und präzise. Der
Vorwurf des Präzisionmangels und der Vagheit an die Adresse der Geisteswis-
senschaften ist entweder trivial oder falsch.

Vorurteil 2:
Die Geisteswissenschaften sind veraltet, sie gehören ins Museum

Die Geisteswissenschaften sind über weite Strecken als historische Disziplinen
zu verstehen. Als Wissenschaften von der Vergangenheit wird ihnen nachge-
sagt, sie seien rückwärtsgewandt, würden die Vergangenheit konservieren und
seien zukunftsfeindlich, weil sie an überlieferten Vorstellungen, Normen und
Werten festhalten und eine kreative Entwicklung behindern.

Plakativ formuliert lautet das Vorurteil: Geisteswissenschaften sind Pro-
fis für Vergangenes, Veraltetes und als solche sind sie selbst bereits veraltet,
antiquiert, passe. Die Geisteswissenschaften sehen alt aus. Den Naturwissen-
schaften gehört die Zukunft.

Urchs 2002,23.
 
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