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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0141

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Zwischen Vorurteilen und Missverständnissen 129

Der allgemeine Boom des Gedächtnis-Begriffs im Feld von Politik, Gesell-
schaft und Wissenschaft (Stichworte: Historikerstreit, Vergangenheitsbewälti-
gung, Mahnmal-Diskussion, Wehrmachtsausstellung, Reparationsforderungen
der Vertriebenen) scheint dieses Vorurteil zu bestätigen. Ich werde später auf
diesen Punkt unter dem Stichwort Geisteswissenschaften als Gedächtniswis-
senschaften zurückkommen. Zunächst ist der einfache Befund zu formulieren,
dass sowohl für Individuen wie Kollektive gilt: wer die Vergangenheit nicht
vergegenwärtigt und sich nicht mit ihr auseinandersetzt, der läuft Gefahr, in
historisch entstandenen Routinen hängen zu bleiben. Wer nicht zurückschaut,
der lässt sich oft in seinem Handeln von vergangenen Erfahrungen bestimmen.
Erfahrungen, die dem Bewusstsein überhaupt nicht als solche zugänglich sind.

Vorurteil 3:
Die Geisteswissenschaften sind nutzlos

Unausgesprochen steht hinter diesem Vorurteil ein Luxus-Verdacht: wer keinen
Nutzen seiner Tätigkeit nachweisen kann, hat keinen Anspruch darauf, ernst
genommen zu werden. Die Lage ist ernst: jeder hat seinen Beitrag zur Siche-
rung des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu leisten. Wer den ökonomischen
Imperativ ignoriert, der sägt am Ast, auf dem er sitzt. Der Ast, auf dem die
Geisteswissenschaften sitzen, ist bald durchgesägt.

Dieses Vorurteil hat eine Grundlage in der Lage der Dinge: Die Arbeit der
Geisteswissenschaften insgesamt hat keinen durchgängigen direkten Nutzen
für die Gesellschaft. Das heißt nicht, dass die Geisteswissenschaften nutzlos
sind. Und vor allem heißt das nicht, dass sie wertlos sind.

Dieses Vorurteil ist vor allem unspezifisch. Es trifft nicht nur die Geistes-
wissenschaften, sondern sämtliche nicht direkt anwendungsbezogenen und
marktfähigen Institutionen, Produkte und Dienstleistungen. Der Luxus-Ver-
dacht kann ebenso gut gegen die Grundlagenforschung in allen Naturwissen-
schaften gewendet werden. Und er kann gegenüber solchen Institutionen wie
Theater, Museen, Sportstätten, Parkanlagen, Schwimmbäder und Kirchen er-
hoben werden.

In allen diesen Fällen ist es nicht möglich, einen direkten Nutzen mit un-
umstrittenen, quantifizierbaren Effekten auszuweisen. Verteidiger mögen den
radikalen Nutzenkalkulierern und den rationalen Barbaren entgegnen, dass
gleichwohl auf indirekte Weise ein Nutzen der jeweiligen Aktivitäten und
Institutionen entsteht. Schöne Parkanlagen steigern die Attraktivität der je-
weiligen urbanen Zonen. Museen und Theater machen Städte zu beliebten
Zielen des Tourismus. Sportstadien, die die Ausrichtung publikumswirksamer
Wettkämpfe erlauben, tragen zur Steigerung der Umsätze und damit des Steu-
eraufkommens in den jeweiligen Kommunen bei usw. usf. Wenn der Nutzen
oft nicht präzise zu quantifizieren ist, lässt sich in vielen Fällen doch plausibel
auf solche positiv eingeschätzen Konsequenzen vieler Institutionen hinweisen.
 
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