Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0142

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
130 Dieter Teichert

Diesen Hinweis will ich aber überhaupt nicht stark gewichten. Denn ich rech-
ne damit, dass der rationale Barbar in Sachen Geisteswissenschaften darauf
hinweist, dass in anderen Bereichen mit vergleichbaren Investitionen höhere
Gewinne zu erzielen sind. Im Fall der Geisteswissenschaften kann man einen
indirekten Nutzen erkennen, der demjenigen der anderen Beispielfälle eindeu-
tig überlegen ist. Eine geisteswissenschaftliche Ausbildung verhilft in einem
später noch zu erläuternden Sinn zu einer Vorstellung darüber, welche Struk-
turen und Normen die eigene Gesellschaft auszeichnen. Geisteswissenschaften
befördern das Wissen über die soziale und politische Gegenwartssituation, die
historische Entstehungsgeschichte dieser Situation und die Differenzen zur
Lage anderer Gesellschaften und Kulturen.

In einer Demokratie ist die Gesamtheit der Bürger der Souverän. Ein
kluger Souverän ist besser als ein dummer Souverän. Eine gut ausgebilde-
te Bevölkerung ist einer schlecht, oberflächlich und einseitig ausgebildeten
Bevölkerung vorzuziehen. Sie ist überlegen, weil sie sich von den politischen
Repräsentanten nicht hinters Licht führen lässt, oder - positiv gewendet -, weil
die Politiker im Austausch mit einer kritischen und aufgeklärten Bevölkerung
bessere Problemlösungen finden werden als in Verhältnissen, in denen das
Wahlvolk oberflächlichen Werbeslogans glaubt und die Güte von Argumenten
nicht sachlich-kritisch abwägt. Ein kritisches Wahlvolk trägt zu einer Steige-
rung der Qualitätsstandards seiner gewählten Vertreter bei. Die Vorstellung,
dass ein gut ausgebildeter Souverän eine Notwendigkeit für das Gedeihen des
Gemeinwesens ist, findet sich seit jeher in der Literatur der Politikerberatung.
Einschlägig ist beispielsweise die Maxime „Ein ungebildeter König ist ein ge-
krönter Esel" (Rex illiteratus asinus coronatus), die aus dem 12. Jahrhundert
überliefert ist.3

Auch und gerade unter den Bedingungen der Demokratie, zumal in einer
so genannten Informations- und Wissensgesellschaft, spricht alles dafür, dass
eine gute Bildung, dass die Fähigkeit, Argumentationen kritisch zu prüfen und
komplexe Texte genau zu interpretieren, wesentliche Voraussetzungen dafür
sind, dass die Beteiligten sachangemessene und kluge Entscheidungen treffen
können. Da in einer Demokratie alle Bürger am politischen Geschehen teilha-
ben und durch ihre Wahlentscheidungen die Grundlinien der Politik mitbe-
stimmen, ist es geboten, die Voraussetzungen für eine kompetente Entschei-
dung des Souveräns zu schaffen. Von daher ergibt sich ein starkes Argument für
die Bedeutung der schulischen Ausbildung im Allgemeinen und für die Geis-
teswissenschaften im Speziellen. Denn sie tragen gerade durch die Vermittlung
von historischem Wissen und Bildungswissen zu einer geschärften Wahrneh-
mung der eigenen Gegenwart und der Eigenart der eigenen gesellschaftlichen
Wirklichkeit bei. Sie fördern die Fähigkeiten zur Analyse rhetorischer Strate-
gien, zur Bewertung der Stringenz von Argumentationen und zur Beurteilung

3 Malmesbury 1889,467.
 
Annotationen